Philologisches Seminar und naturwissenschaftliches Labor

Bearbeitung: Lutz Danneberg

Zu den weithin geteilten Ansichten gehört, dass das Seminar als Form des Lehrens und Lernens ebenso kennzeichnend wie bestimmend gewesen sei für die Entwicklung, welche die Universitäten im 19. Jahrhundert in Deutschland genommen haben und genau das habe denn auch wesentlich zu ihrer internationalen Reputation beigetragen, nicht zuletzt in der Verbindung von Lehre und Forschung, also mit dem sich freilich nicht sogleich, vor allem nicht gleichmäßig durchsetzenden sogenannten ,Forschungsimperativ’. Schon die Zeitgenossen haben das in ähnlicher Weise wahrgenommen. So betont Friedrich Paulsen (1846-1908) angesichts des „hervorragenden Anteils“ der deutschen Universitäten an den „großen Wandlungen des wissenschaftlichen Denkens und Arbeitens“: „Die philosophische Fakultät steht dabei in der vordersten Reihe, ihre wissenschaftlichen Seminare sind die Stätten, wo die Forschergeneration sich die Hand reichen, um die Kontinuität der Arbeit zu sichern.“ Bereits 1913 findet das in einer ersten übergreifenden Darstellung des universitären Seminars seine Bestätigung.

Inwieweit ein solcher Zusammenhang tatsächlich bestand und inwiefern die Gründungen von Seminaren als Indikator etwa für den Stand der Institutionalisierung der jeweiligen Disziplinen gelten können, soll in dem Projekt ebenso wenig Gegenstand sein wie der Beitrag anderer Faktoren der keineswegs einheitlichen Universitätsentwicklung in den Ländern Deutschlands bis 1914. Das, was Thema der Untersuchung sein soll, ist das seminariumphilologicum in seinem (Selbst-)Verständnis als einer neben dem Labor besonderen Stätte des Erzeugens und Vermittelns von Wissens(ansprüchen), aber auch von Fertigkeiten und Fähigkeiten – und das heißt nicht nur, wie sich das in seinem Rahmen betriebene philologischen Arbeiten darstellt und versteht, sondern auch welche (wissenschaftlichen) Prägungen es vermittelt oder vermitteln soll.

In zahlreichen Untersuchungen, vor allem im Blick auf die einzelnen Universitäten, finden sich Informationen zur äußeren Geschichte des Seminars – zu Personen, Reglements, finanziellen Ausstattungen –, das sich etwa so knapp umschreiben lässt: „Als statutenmäßig festgelegte, ihren jeweiligen Leiter überlebende Hochschuleinrichtungen ermöglichten Seminare und Institute die kontinuierliche Abhaltung von Übungen durch jährliche Haushaltsmittel (staatliche Denotationen, ergänzt durch Eigeneinnahmen aus Benutzergebühren) mit Prämien für die Studierenden und besonderer Dotation für den Direktor, durch eigene Räume, kleine Bibliotheken und technische Apparaturen. Sie standen unter ministerieller Aufsicht, und der Direktor oder die Direktoren waren an den meisten Orten zu Berichten an die vorgesetzte Behörde verpflichtet. Für die Studenten wurde das Seminar als eine Art Heimstätte wie das englische College, demgegenüber die deutsche Universität des 19. Jahrhunderts sonst nichts Vergleichbares zu bieten hatte.“ (Bernhard vom Brocke, Die Entstehung der deutschen Forschungsuniversität, ihre Blüte und Krise um 1900. In: Rainer Christoph Schwinges (Hg.), Humboldt International. Basel 2001, S. 367-401, hier, S. 374/75; der Vergleich mit dem „englischen College“ darf dabei allerdings nicht zu streng genommen werden. Auch der Aspekt der Kontinuität über den Seminarleiter hinaus mußte nicht immer gegeben sein).

Gelegentlich finden sich aber auch Hinweise zu seinem inneren Leben, also zur philologischen Arbeit. Die Texte, denen sich Informationen über die Seminaria philologica entnehmen lassen, reichen von historischen Untersuchungen bis zu zeitgenössischen Darstellungen, von Gelehrtenbiographien über Nekrologe bis zu Erinnerungen ehemaliger Seminaristen und Kollegen, von programmatischen Verlautbarungen über Statuten und Reglements bis zu offiziellen Rechenschaftsberichten. Hinzu kommen in der Zeit unveröffentlichte Schriften und Archivmaterialien, die später nur in wenigen Ausnahmen ediert oder dokumentiert worden sind; vieles davon – das betrifft nicht selten auch die jeweiligen Seminarstatuten – dürfte mittlerweile verloren gegangen sein. Die Informationen, die solche Texte explizit, oft aber auch nur implizit bieten, wurden bislang weder systematisch noch flächendeckend unter den hier verfolgten Fragestellungen des ,inneren Lebens’ des philologischen Seminars als ,Raum’ des Wissenserwerbs und der Wissenserzeugung im Vregleich mit dem Labor ausgewertet.

Erschwert wird eine entsprechende Musterung der unterschiedlichen Texttypen und ihre Auswertung als ,Quellen’, da die in ihnen vorfindlichen Informationen angesichts ihrer jeweiligen Veranlassung und Motivation gegeneinander kritisch abzuwägen bleiben. Zwar lassen sich aus den gebotenen Darstellungen mehr oder weniger sichere Rückschlüsse auf die Ausgestaltung des ,inneren Lebens’ des philologischen Seminars ziehen, nicht zuletzt hinsichtlich der Art und Weise der Wissensproduktion in diesem ,Raum’, doch das, was im Folgenden unternommen wird, betrachtet diese Texte aufgrund methodischer Überlegungen zuvörderst als Selbst- oder Fremdbeschreibungen. Vornehmlich geht es im Blick auf die philologische Tätigkeit im Seminar des 19. Jahrhunderts daher um die Analyse von Elementen und Aspekten der Beschreibungssprache der Philologie bei der Darstellung sowohl Gegebenem als auch Gewünschtem. Nicht zuletzt aufgrund der Materiallage mit Zeugnissen des frühen 19. Jahrhunderts wiederholter Selbstbeschreibungsversuche steht das altphilologische Seminar zwar im Blickpunkt, aber das Projekt versucht generell die Seminaria philologica als eine bestimmte Konstellation des Wissenserwerbs und der Wissensvermittlung in den Blick zu nehmen.

Doch allein schon dann stellt sich das ,Innenleben’ des Seminars als überaus komplex dar, wenn man sich auf die Momente der Vermittlung, des Erwerbs und der Produktion philologischen Wissens in dieser ,Heimstätte’ beschränkt und dabei zu berücksichtigen versucht, wie sich in diesem ,Raum’ ,wissenschaftliches’ und ,soziales Leben’ verschränken. Zwar bemühen sich die Selbstbeschreibungen nicht selten, dieser Komplexität gerecht zu werden, doch zeigt sich dieses Komplexität mehr noch und durchweg an einem speziellen Merkmal der bei den Beschreibungen der philologischen Tätigkeiten verwendeten Sprache: Als ihr Grundmuster erscheint immer wieder die systematische Ambiguität, also die Doppel- oder Mehrdeutigkeit zentraler Beschreibungsausdrücke – so denn auch die der Methode oder des Takts, die zugleich stellvertretend für andere der (nicht nur) im 19. Jahrhundert verwendeten Ausdrücke solcher Beschreibungen stehen. Beim Vergleich mit einem für die wissenschaftliche Entwicklung im 19. Jahrhundert der Universitäten nicht weniger wichtigen ,Raum’, das naturwissenschaftliche Laboratorium, zeigen sich zwar Ähnlichkeiten, aber auch gravierende Unterschiede zu Konstellationen des Wissenserwerbs im (philologischen) Seminar. Nicht zuletzt anhand dieser Unterschiede sollen sich die charakteristischen Aspekte der Arbeit im Seminarium philologicum der Zeit erhellen.
Verknüpfungen

Vorarbeiten

  1. Lutz Danneberg, Peirces Abduktionskonzeption als Entdeckungslogik. Eine philosophiehistorische und rezeptionskritische Untersuchung. In: Archiv für Geschichte der Philosophie 70 (1988), S. 305-326.
  2. Lutz Danneberg, Methodologien. Strukur, Aufbau und Evaluation. Berlin 1989.
  3. Lutz Danneberg, Ad-personam-Invektive und philologisches Ethos im 19. Jahrhundert: Wilamowitz-Moellendorff contra Nietzsche. In: Ralf Klausnitzer und Carlos Spoerhase (Hg.), Kontroversen in der Literaturtheorie/ Literaturtheorie in der Kontroverse. Erscheint als Bd. 17 der Pubilkationen zur Zeitschrift für Germanistik IV/2007, S. 93-148
  4. Lutz Danneberg, „ein Mathematiker, der nicht etwas Poet ist, wird nimmer ein vollkommener Mathematiker sein“: GeschmackTaktästhetisches Empfinden im kulturellen Behauptungsdiskurs der Mathematik und der Naturwissenschaften im 19. Jahrhundert – mit Blicken in die Zeit davor und ins 20. Jahrhundert (FHEH-Preprint, Version 1. 11. 2009; PDF-Datei)

Kontakt: Lutz Danneberg