Das Projekt der Analyse und Erprobung wissenschaftshistoriographischer Konzepte resultiert aus einem Unzufriedenheit angesichts zahlreicher Instrumente bisheriger Wissenschaftsgeschichtsschreibung sowie einem Mißbehagen angesichts der Reflexion dieser Instrumente. Um dieses Mißbehagen plakativ auszudrücken: Es gibt eine Vielzahl von Konzepten – so wollen wir diese Instrumente nennen –, die offenbar wichtige wissenschaftshistorische Aspekte kognitiver Prozesse beschreiben oder sogar in Ansätzen zu erklären versuchen, die in konkreten Untersuchungen jedoch nur selten im Verbund strukturierend wirken. Mitunter wird eines dieser Konzepte sogar mit dem Anspruch der Exklusivität verwendet. Solche Instrumente, die wir meinen, sind zum Beispiel Stil, Schule, Disziplin, Kontinuität, Diskontinuität, Generation, System, Fortschritt, Paradigma, Tradition, Vorläufer, Ruhm, wissenschaftliches Forschungsprogramm, Problem, Leit-Ideen, Theorie, tacit knowledge, empirische Daten, Hintergrundwissen, operationales Wissen, Rezeption, Konkurrenz, Wissenstransfer, Popularisierung, Dissens, Konsens, aber auch Institut, Labor, Raum, Netzwerkoder Transdiziplinarität – um eine beliebig fortzusetzende, betont bunte Reihe abzuschließen. Zumindest ein Teil der genannten Konzepte lässt sich als konkurrierend auffassen, andere befinden sich auf recht unterschiedlichen ,Ebenen’ der Beschreibung oder Erklärung.
Das zentrale Ziel des Projekts besteht darin, jeweils eine Auswahl derartiger Konzepte vergleichend zu untersuchen, miteinander zu konfrontieren und in ihren Grenzen, aber auch Leistungen zu bestimmen. Das soll unter vier Schritten oder Gesichtspunkten geschehen. In einem ersten Schritt ist zu klären, in welcher Beziehung wissenschaftshistoriographische Konzepte untereinander stehen. Ein zweiter Schritt hat zu untersuchen, wie sie sich so explizieren lassen, daß sie zu tauglichen und praktikablen Arbeitsinstrumenten des Wissenschaftshistorikers werden, was dann zumindest zu einer Unterscheidung zwischen beschreibenden, deutenden und erklärenden Konzepten führt. Der dritte Gesichtspunkt orientiert das Projekt auf die spezifischen Leistungen für eine wissenschaftshistorische Untersuchung, die ein solches Konzept erbringt oder zu erbringen beansprucht. Schließlich stellt sich viertens die Frage, wie solche Instrumente in der Lage erscheinen, die zeitliche Abfolge kognitiver Produkte zu strukturieren, die sich in unterschiedlicher materialer Gestalt darbieten, und in welcher Weise sie Beziehungen zwischen den kognitiven Produkten sowie zu dem, was nicht als kognitives Produkt erscheint, stiften – wie sich also Beziehungen zwischen Wissensansprüchen und den Konditionen ihrer Erzeugung einerseits und ihrer mehr oder weniger materialen Umgebung andererseits herstellen lassen.
Der Ausgangspunkt der Analysen bildet die Orientierung an Fragen nach der Verwendbarkeit solcher Konzepte für das konkrete Verfassen von wissenschaftshistorischen Texten und der sich dabei stellenden Probleme. Die übergreifenden, mitunter schwindelige Höhen erklimmenden Deutungsannahmen sind insofern von Interesse sind, als sich Spuren von ihnen in den analysierten Konzepten finden. Das Ziel besteht freilich nicht darin, ,Systeme’ oder ,Netzwerke’ von Instrumenten zu generieren, die eine gleichsam statische Verknüpfung der analysierten und rekonstruierten Konzepte bieten. Schon deshalb scheint das kein akzeptables Ziel zu sein, da sich immer wieder zeigt, daß die Analyse dieser Konzepte und ihre Verwandlung in Instrumente nur problemorientiert erfolgen kann. Ein als ,System’ gefügter Baukasten wissenschaftshistorischer Instrumente würde erfordern, daß sich Problementwicklungen still stellen lassen oder daß es ein verbindliches Problemgefüge für alle wissenschaftshistorischen Untersuchungen gibt.
Zu den größten Schwierigkeiten bei der Realisierung eines solchen Projekts gehört die eminente Text-Gebundenheit nicht weniger der einschlägigen Konzepte. Das meint, daß sie oftmals besonders eng an die prägenden Situation und Konstellationen ihrer Einführung in wissenschaftshistorischen Untersuchungen gebunden erscheinen. Zugleich bedeutet das, daß zahlreiche ihrer Eigenschaften nicht explizit gemacht werden, sondern daß die gesamte einführende Untersuchung oder Situation ihrer Prägungn ihren Gehalt wie ihre Eigenschaften bestimmt. Und nicht selten richtet sich die Aufmerksamkeit auf die Konzepte, erst dann, wenn die Ergebnisse solcher Untersuchungen, an denen diese Konzepte beteilitgt sind, unplausibel erscheinen; klassische Beispiele dafür sind das Paradigmakonzept, das Konzept der Inkommensurabilität kognitiver Großeinheiten oder das des Diskurses. Die Analyse erschwert denn auch nicht selten der Umstand, dass die verwendeten Konzepte selbst an der Erzeugung der Plausibilität der mit ihnen gestalteten Narrationen beteiligt sind.
So groß der Gewinn solcher Selbstautorisierungen mit der Bindung an musterhafte Narrationen am Beginn der Karriere eines neu generierten wissenschaftshistoriographischen Konzepts auch sein mag, solche bindungshaften Konzepte erleben in er Rgel ihren ebenso rasanten Abstieg im Zuge ihrer nichtexplizierenden Reproduktion und Aufnahme, indem sie immer mehr verbreitet und zerredet werden. Am Ende steht, dass ihre in bestimmten Kontexten durchaus gegebene erhellende Wirkung, auf diesen Wegen der Kontextualisierung im Zuge ihrer Trivialisierung verloren zu gehen droht – und wenn die Bringschuld der Analyse bei ihrer entlehnenden Verwendung über längere Zeit nicht erbracht wird, dann erhalten sie die Markierung von Unprofessionalität oder Uninformiertheit; sie werden zum Bodensatz gealterter Wissensbestände, bei denen man sich mittlerweile hüten muss, sie aufzunehmen, will man nicht Zeichen der Inkompetenz verbreiten. Freilich noch weniger attraktiv erscheint, wenn die Aufnahme der betreffenden Konzepte und ihre Anwendung sie in übergreifende Deutungskonzepte verwandelt. Sie werden zwar von ihrer Einführungsgeschichte abgelöst, doch diese Ablösung hat nicht selten zur Folge, dass sie gleichsam freischwebend erscheinen. Mit ihrer Ablösung verlieren sie ihre ,empirische’ Verankerung, der gegenüber sie zunächst erhellend gewesen sein mögen. Derartige Deutungskonzepte bilden dann oftmals die Grundlage für eine Wissenschafts- oder Philosophiegeschichte, die nurmehr auf Sekundär- oder Tertiärlektüren beruhen kann, die ein dargebotenes Material, die ,erzählten Geschichten‘, gleichsam als nackte, als verbürgte Tatsachen nimmt und sie umdeutet, indem sie sie ,gegen den Strich’ liest.
L. Danneberg, Zur Explikation von Epochenbegriffen und zur Rekonstruktion ihrer Verwendung. In: Klaus Garber (Hg.), Europäische Barock-Rezeption. Bd. I. Wiesbaden 1991 (Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung 20), S. 85-94.