Die hermeneutica generalis Johann Claubergs

Bearbeitung: Lutz Danneberg

Johann Claubergs Lebensspanne fällt in eine Zeit an­hal­tender konfes­sioneller und machtpolitischer Kon­flikte in Mitteleuropa. Der Drei­ßig­jährige Krieg, der wech­selweise die Länder des Deut­schen Reiches in Mitleidenschaft zieht und dabei zahl­reiche Ge­lehrte zur Flucht treibt oder ex­patriiert, ist fortwährend präsent. Kaum ist Clauberg ein hal­bes Jahr alt, wird Hei­delberg erobert und zahl­reiche refor­mier­te Uni­ver­si­täts­angehörige verlassen die Stadt. Die Uni­ver­sität hört fak­tisch auf zu be­stehen, und die be­rühmte Bib­liotheca Palatina wird im Zuge der Er­oberung ge­raubt und nach Rom ge­bracht, was indes ihren defini­tiven Verlust sieb­zig Jahre später verhindert haben dürf­te. Von solchen Wirrnissen und kriegeri­schen Aus­ein­an­der­setzungen scheint Clauberg auf den Stationen seiner Aus­bildung je­doch nicht di­rekt be­trof­fen zu sein.

Er ist gerade auf seiner pe­regrinatio academica, als im West­fälischen Frie­den der Krieg mit der Be­stä­tigung des Augs­burger Re­li­gions­frie­dens von 1555 beendet wird, nun al­lerdings un­ter Ein­schluss der Refor­mier­ten bzw. Cal­vinisten, mithin Clau­bergs Kon­fession. Seine Le­benszeit war kurz bemes­sen: Die Grün­dung der Lon­doner Royal Society hat er noch er­lebt, die der Acadé­mie Royale des Sciencesschon nicht mehr, in der allerdings Car­te­sianer wie Jesuiten nicht zugelassen wa­ren – nicht wegen spe­zieller Überzeugungen, son­dern als Parteigänger rigi­der philosophischer und religiöser Ansichten. Viele seiner Freunde über­lebten ihn, mitunter um vier­zig Jahre, so auch seine Frau.

Glei­chen Jahr­gangs wie Clau­berg war Jakob Tho­masius (1622-1684), der in sei­nerPhysica perpetua Dialogo von 1670 ausführlicher auf ihn eingehen wird. Sei­nen Sohn, Christian Thomasius (1655-1728), wird die Logikauffassung Claubergs beeinflus­sen, und sein berühmtester Schüler, Gott­fried Wilhelm Leib­niz (1646-1716), hätte ein Brief­partner Claubergs wer­den kön­nen. Doch als Leibniz 1666 an der phi­losophischen Fakultät in Leipzig mit der Dispu­tatio Arith­metica de com­plexio­ni­bus, später er­wei­tert als Dis­sertatio de arte com­bi­natoria, habi­li­tiert und ein Jahr später in Altdorf zum Doktor der bei­den Rechte pro­mo­viert, lebt Clauberg schon nicht mehr. Es sind bei Leibniz nicht mehr ge­blieben als einige Kundgaben der Kenntnis – „Claubergius est Car­te­sii para­phra­stes“ – und der Wert­schätzung: „Car­tesius vo­luit emen­da­re quae­dam in Phy­sicis, displicet ta­men au­da­cia & fastus ni­mius, con­junc­tus cum styli ob­scu­ri­tale, con­fu­sione, male­di­cen­tia. Clauber­gi­us, dis­ci­pu­lus ejus, pla­nus, per­spi­cuus, bre­vis, me­tho­di­cus“. Für Leib­niz ist er magistro clarior, wobei Clauberg bei diesem Urteil sicherlich auch von Abgrenzungs­bemühungen profi­tiert, die Leibniz ge­genüber René Descartes un­ternimmt, und davon, dass der junge Leibniz eben­falls um eine „reconciliatio Ari­stotelis et rescen­tiorum Philosophorum“ bemüht ist. Zu­dem wird be­rich­tet, Leib­niz habe sich später – vergeblich – um den Er­werb des Wer­kes De caussis Germani­cae Linguae aus dem Nachlass Clau­bergs bemüht. In sei­nen Über­le­gungen zur Ver­besserung der Enzy­klopädie Jo­hann Hein­rich Al­steds (1588-1638) will sich Leibniz neben der Logik von Joachim Jun­gius (1587-1657) und der von Port-Royal auch auf die Logica vetus & nova Claubergs stüt­zen, die als quadri­partita zu­erst 1654 er­scheint.

So kurz seine Lebensspanne auch bemessen war, Clauberg hat ein stattlichesŒuvre hinterlassen – in der Zeit al­ler­dings nicht außerge­wöhnlich. Bartho­lo­maeus Kec­ker­mann (1571/2-1609) ist für den Be­ginn des Jahr­hun­derts ein überra­gendes Beispiel. Clauberg sind zwei Jahre weniger als Bene­dictus de Spi­noza (1632-1677) ge­geben und in dem Alter, in dem er stirbt, hat Thomas Hobbes (1588-1679) noch kein einziges phi­lo­so­phisches Werk veröffentlicht und es liegt gerade die erste Pu­blikation Des­cartes‘ vor. Clau­berg war we­der ein früh­be­gab­ter noch ein früh­voll­en­deter. Das The­ma, um das sein phi­lo­so­phi­sches Werk im wesentlichen kreist, ist die Aus­ein­an­dersetzung mit der cartesianischen Phi­losophie. Das hat die Er­innerung an sei­ne philosophi­sche Lei­stung bewahrt, aber auch ein­ge­schränkt. Heißt es bei Christian Wolff (1679-1754) noch posi­tiv „optimus om­nium confes­sione Car­tesii inter­pres“ und zählt er Clauberg immerhin zu den Car­te­sianern, welche die Fehler der scho­lastischen Philo­sophie er­kannt hätten, sie aber nicht beheben konn­ten, gilt er spä­teren nur ­mehr als er­ster ,Dol­metscher’ der car­te­sianischen Phi­lo­so­phie in Deutsch­land. Das hat die ein­schlägige Forschung in verschiedener Hin­sicht mittlerweile zu kor­ri­gieren ge­wusst.

Nicht besser stand es, wenn sein Name mit dem Hinweis auf die an­geb­liche Kreie­rung des Ausdrucks on­tologia als ter­mi­nus techni­cus von den Über­blicks­dar­stellungen oder Nachschlagewerken in die Köpfe der Leser geriet. Die bi­bli­o­the­ka­rische Su­che nach extraordinären Ter­mini, die zum er­sten Mal im Ti­tel von phi­lo­so­phischen Werken auf­treten, bildet eine der Schwund­stu­fen in der Be­schäf­tigung mit der Ge­schichte der Philo­sophie. Sie wurde vor geraumer Zeit im Zuge der Iden­ti­fizierung des Aus­drucks hermeneu­tica im Ti­tel ei­nes Werkes zur sa­kralen Ausle­gungslehre – zeitgleich zu Clau­berg – zum Anlass für ausgrei­fende Spe­ku­lationen ge­nom­men, die indes nur erken­nen las­sen, dass es an phi­lo­so­phie­hi­sto­ri­schen Kennt­nissen man­gelt und wohl kaum länger der Blick in einem der be­tref­fenden Werke ver­weilt hat.

Selbst wenn man die Leistungen Claubergs anerkannte, in ihm einen ‚Selbst­den­ker‘ zu sehen vermochte, dessen Vor­trä­ge sich wegen ihrer „Deutlichkeit“ und „Ord­nung“ aus­zeichnen und der cartesiani­schen Philosophie nicht we­nige er­gänzende Konturen verliehen habe, so schwingt doch oft­mals das Bedauern mit, seine Bin­dung an die car­te­sianische Phi­losophie habe ihn um tiefere Einsich­ten ge­bracht. Wie dem auch sei – zu berück­sich­tigen bleibt, dass ein Groß­teil sei­ner philo­so­phi­schen Werke auf Kon­stel­la­tionen in seiner engeren und weiteren intellek­tuellen Um­ge­bung reagieren. So ist der beträcht­lichste Teil sei­ner Schriften zur Verteidigung und Er­läu­terung der philo­so­phi­schen Über­zeu­gun­gen Descartes‘ sol­chen Konstella­tionen ge­schuldet. Anders als in der Ge­gen­wart taten sich in der er­sten Hälf­te des 17. Jahr­hun­derts die no­vatores, die neo­tericischwer, ihre In­no­vation zu ver­tei­di­gen, da die Rechtfer­tigung von Wis­sens­an­sprü­chen in beson­derer Weise an die Kon­for­mi­tät mit Aussagen in mehr oder we­niger autori­ta­tiven Tex­ten gebunden war. Inno­va­ti­onen gilt es in der Zeit, mit der Tra­dition zu ver­knüpfen. Clau­bergs lo­gica ist eben ve­tus & nova, oder – auf den Punkt gebracht – „Ari­sto­te­lico-car­te­si­a­na“. Er fun­giert wie viele an­dere alsConciliator inter Ari­stotelem et Recentiores. Zu dieser Zeit sind Be­grün­dun­gen immer auch Ansprüche auf An­ciennität intertex­tueller Be­züge; dem kann sich auch ein ,Cartesianer’ nicht verschließen.

Seit dem 16. Jahrhundert häufen sich in unterschiedlichen Be­reichen Ver­suche, zu­nächst als di­ver­gie­rend oder ge­gensätzlich erscheinende Auffassungen und Lehr­tra­di­tionen einer Harmonie zuzuführen, zu kon­zilieren. Dass Des­cartes‘Œuvre un­ter der Feder Clau­bergs (aber auch an­derer sei­ner An­hänger) mit­unter aristo­te­lischer aus­fällt, als man es später sieht und heute in das nach­re­for­ma­to­rische Jahr­hundert ein­zu­ord­nen pflegt, dass eine Auf­nahme der carte­si­anischen Phi­lo­sophie auf­gelöst in ein­zelne Sen­ten­zen, den in­te­gralen Versuch eines Neu­ansatzes teil­weise zu verwi­schen droht, dass grund­sätzliche Span­nun­gen, die das cartesianische Phi­lo­so­phie­ren kenn­zei­chnen mö­gen, ohne Nach­klang bleiben, dass die Angleichungs­bewegungen mit­unter an die Tri­via­li­sierung von ent­scheidenden Mo­menten einer neuen Phi­losophie gren­zen, wird heute ebenso we­nig wun­dern wie seinerzeit die Ver­knüp­fung von Auf­fassungen Des­cartes‘ mit denen Ba­cons oder Gas­sen­dis.

Den Ausgangspunkt für das Projekt bildet der Umstand, dass Claubergs Logica vetus & nova als ihren dritten von vier Teilen (quadripartita) eine Hermeneutik enthält. Freilich ist Clauberg nicht der erste, der eine hermeneutica generalisverfasst hat und ihr einen Platz in einem Lehrbuch der Logik geschaffen hat – also in einem Werk, in denen in der Zeit das geboten wird, was sich als eigen Art Wissenschaftslehre auffassen lässt. Ein Moment freilich lässt gerade das überraschend erscheinen: Der als Theologe wie als Philosoph ausgebildete Clauberg unternimmt das vor einem ausgesprochen cartesianischen philosophischen Hintergrund. Es überrascht bei einem so dezidierter Anhänger eines Philosophen, der aus seiner Ablehnung der Wissensgewinnung aus dem Lesen von (fremden) Büchern keinen Hehl macht und der, wenn auch eher am Rande, zwischen der cognitio historica und der cognitio philsophicaunterscheidet hat und dem die Philologen nicht mehr als ein historisches Wissen über opiniones, nicht aber über die veritas, zu bieten vermögen. An einer Stelle in seiner Logica vetus & nova heißt es: Uns lege bereits die Vernunft nahe, die Auffassung eines Autors eher durch seinen Schüler als durch seinen Gegner in Erfahrung zu bringen – eine Variation auf: „Jeder beurteilt dasjenige richtig, was er kennt, und ist darin ein guter Richter“ (Aristoteles, Nik Eth, I, 1). Clauberg fährt fort: Wie nämlich ir­gend­ein Franzose einen Spanier, mit dem er im Krieg liegt, dem Betrachter kaum anders vor Augen stellen kann als in gro­tesker Gestalt und Erscheinung auf einer Theater­bühne; ebenso geschieht nicht selten, dass ein Gegner – weil er gierig nach dem greift, was er verspotten kann – dem Autor Ansichten unterstellt, die dieser nicht vertritt. Des­gleichen ereignet es sich oft, dass ein Gegner dem Leser die An­sichten des Autors vollkommen ungereimt beschreibt, damit er sie um so leichter widerlegen kann. Daher befindet sich derjenige im Irrtum, der glaubt, dass man über die Ansichten des Aristoteles bei Ramus oder über die Ansichten des Descar­tes bei denjenigen informiert werden könne, die sich ihm bis heute eher aus Lei­denschaft als aus Vernunft­gründen widersetzt haben.

Gegen solche caluminatores, die freilich mittlerweile nur dem Fachgelehrten wenigstens dem Namen nach vertraut sind, verteidigt Clauberg seinen philosophischen Meister, obgleich er katholisch ist und zudem noch – horribiledictu – eine jesuitische Erziehung genoss, in nicht wenigen Schriften. Aber auch in seiner Hermeneutik zeigen Spuren davon. Freilich ist in ihr diese Bezugnahme auf den philosophischen Meister nur subkutan und lässt sich nur indirekt ermitteln, etwa wenn Clauberg eine Anweisung zum richtigen Lesen darlegt, die Descartes im Hinblick auf die aufmerksame und gründlichen Lektüre seiner eigenen Schrift gelegentlich formuliert hat. Doch reicht das mitnichten aus, um zu erklären, weshalb in einer cartesianisch-aristotelischen Logik, wobei weder bei dem einen noch bei dem anderen das eine Vorprägung besitzt, die hermeneutica generalis nicht nur erwähnt wird und ihre Lehrstücke mehr oder weniger sporadisch abgehandelt werden, sondern sie einensystematisch begründeten Platz in dem Aufbau dieser Logik einnimmt. Um das zu erklären, muss freilich weit ausgeholt werden.

Dazu gehört seine Ausbildung, die er am illustren Gymnasium in Bremen nach dem Niedergang Herborns eine der bedeutendsten Bildungsstätten der Reformierten im deutschsprachigen Raum, und das den Universitäten kaum nachstand, freilich kein Promotionsrecht besaß. Der Einfluss in den Niederlanden, wo er sein Studium der cartesianischen Philosophie in einer Gruppe gleichgesinnter Theologen und Philosophen unternimmt. Sodann die Eindrücke, die er auf seiner pe­regrinatio academica sammelt, die ihn nach Paris, aber auch London führt, vor allem aber an die Akademie von Saumur, einer der Eliteschulen der Hugenotten, nicht zuletzt durch seinen Lehrer dort Moise Amyraut (1596-1664). Später dann an seiner Wirkungsstätte, der neugegründeten Universität in Duisburg. In diesen intellektuellen Welten und Stationen wird er nicht wenigen mehrfach begegnen, nicht wenige haben Einfluss auf ihn, wie etwa der ebenfalls im Bremer Gymnasium ausgebildete, aber schon früher in die Niederlande gegangene Coccejus (1603-1669) – zur Zeit Claubergs bereits eine theologische Berühmtheit und der auch auf Claubergs Hermeneutikvorstellung nicht ohne Einfluss geblieben ist. Später, am Ende des Säkulums und durchgängig im 18. Jahrhundert, ist der Name sprichwörtlich geworden (principia Cocceji) für das Überinterpretieren der Heiligen Schrift, dessensus fecundus oder latius, der Sinnabundanz, angesichts seiner Maxime Verba scripturae tantum significant ubique, quantum significare possunt. In der Tat gibt es Begründungen, bei denen sich der ,Cartesianismus’ mit dem ,Coccejanismus’ im Werk Claubergs verbindet.

Claubergs Lebensweg haben zahlreiche Gelehrten gekreuzt und mehr oder weniger lange begeleitet; darunter sind erstaunlich viele Philologen, mit denen er Umgang gepflegt hat. Ein glücklicher Umstand erleichtert die Spurensuche: Anders als sein philosophischer Meister findet sich in Claubergs Werken eine Fülle von Bezugnahmen, die mehr oder weniger explizit sind – nicht nur im Blick auf Zeitgenossen oder erst vor kurzem verstorbene Philosophen (wie Bacon), sondern auch neu zugänglich gewordenem (wie Maimonides). Als Cartesianer, zumindest der ersten Generation, konnte man durchaus ,gelehrt’ sein. Clauberg scheint zudem an einigen seiner Werke noch nach ihrer Veröffentlichung gearbeitet zu haben – übrigens ist ihre Verbreitung erstaunlich, durch sie selbst wie durch Bearbeitung und Kommentierungen (das Projekt versucht, denen auch ein vollständige Aufnahme der Schriften Claubergs samt ihrer Ausgaben). Seinem Sohn ist es zu danken, dass ihre Ausgabe in der (nicht vollständigen) Sammlung seiner opera omnia auch Zutaten aus den Manuskripten Claubergs enthält und oft handelt es sich dabei um Verweise.

Neben Frans Burmann (1628-1679), Antonius Perizonius (Voor­broek 1626-1672),Friedrich Georg Graevius (1632-1703)Johann Friedrich Gronovius (1611-1671) und vor allem neben Tobias Andreae (1604-1676) sowie anderen ist es ein einziger, ebenfalls zugleich Theologe und Philosoph, der eine besondere Stellung einnimmt: Es ist Claubergs Freund Christoph Wittich (1625-1687). Sein Werk, das freilich eine eigene Würdigung verdient, bietet Aufschlüsse über Claubergs Ansichten, da gleichsam in Arbeitsteilung Wittich Themen ausführlich erörtert, die Clauberg mehr oder weniger in seinen Werken nur streift – das was Wittich in seinem Abschiedsgedicht auf Clauberg schreibt, hätte dieser auch auf ihn schreiben können: „Er war mein ander Ich nun lange zeit gewesen/ Wir hatten manches buch zusammen durch gelesen.“ Das wichtigste Thema für die Hermeneutik ist der Gedanke der Akkommodation, des sensus accommodatus. In verschiedener Hinsicht findet sich ist bereits als condescensio bei den Kirchenvätern, es findet sich bei Thomas von Aquin ebenso wie bei Calvin, nun aber in der Mitte des 17. Jahrhunderts betont verstanden als eine situativeHerblassung Gottes in der Heiligen Schrift ad captum vulgi. Ähnliche Auffassungen hat es sehr vereinzelt bereits im 16. Jahrhundert gegeben, sie finden sich bei Kepler ebenso wie bei Galilei – immer angesichts des Widerstreits zwischen neuerer heliostatischer Theorien und dem sensus litteralis der Heiligen Schrift.

Die Behebung des Konflikts zwischen sensus litteralis und neuem Wissen geschieht unter anderem, indem man den patristischen Gedanken der Akkommodation zwar aufgreift, ihn aner an die veränderte Problemsituation anpasst. In die einfachste Formel gebracht: Es handelt sich darum das Problem zu lösen, die Zuständigkeit der Heiligen Schrift hinsichtlich bestimmter Wissensansprüche einzuschränken, ohne dass ihre Autorität und Dignität Einbußen erleiden – es handelt sich hier um eine Variante des allgemeinen Autoritätsproblems: Etwas an Autorität zu nehmen, ohne damit seine ganze Autorität zu zerstören. Das Problem lässt sich (in einer bestimmten epistemischen Situation) nur lösen, wenn man diesen Mangel der Heiligen Schrift als nur scheinbar oder so erklären kann, dass er ihr nicht wirklich abträglich ist. Das, was diesem Gedanken im niederländischen Umfeld seine besondere Sprengkraft verleiht, ist die Verbindung mit der cartesianischen Philosophie; kurzum mit der Unterscheidung zwischen cognitio communis (auchvulgaris) und cognitio philosophica (auch accurata), und zwar in vierfacher Hinsicht: hinsichtlich der Wissensträger – das allgemeine Wissen richte sich an alle, das philosophische beschränke sich auf die Vertreter der Profession (der jeweiligen Disziplin); hinsichtlich der Mittel der Wissens-Erlangung – bei jenem stünden sie allen zur Verfügung, bei diesem sei die Befreiung von Vorurteilen mittels der gesunden Vernunft sowie ein bestimmtes Maß an Aufmerksamkeit erforderlich; hinsichtlich des Nutzens und des Ziels der Betrachtung – der Gegenstand der allgemeinen Wissensansprüche sei aufgrund seines Bezuges auf die Sinne und das Leben allen gemeinsam, demgegenüber beziehe sich das philosophische Wissen auf die Ursachen oder die absoluten Dinge; schließlich hinsichtlich des Gewißheitsgrades – jene müsse sich mit Probabilitäten im Status der Meinung bescheiden, kann keine gewußte Wahrheit beanspruchen, diese biete mit der certitudo metaphysica höchste (menschlich) erreichbare Gewißheit.

Der Knackpunkt ist dabei – mehr oder weniger ausgesprochen: Gottes Akt der Herablassung in seinen Schriften wird (freilich zunächst im wesentlichen nur für das Alte Testament und nur in Fragen der Naturdinge) historisiert. Seine Herablassung betrifft nur diejenigen, die über die cognitio communis (in Naturdingen) nicht hinauskommen; zugleich aber gibt es solche, das sind die Philosophen, die mit ihrer cognitio philosophica darüber hinaus kommen und für alle die, die über ei cognitio philosophica verfügen, ist oder wäre die Herablassung nicht erforderlich. Zum Verständnis der Hermeneutik Claubergs gehört denn auch der anhaltende Konflikt hinsichtlich der Bestimmung der Beziehung zwischen Philosophie und Theologie und lässt sich so sehen als eine der Etappen auf dem langen Weg der selbstbewussten philosophischen Überbietungsgesten, die um die Wende zum 19. Jahrhundert ihren Höhepunkt erfahren.

Alles das ist für Claubergs Sicht der Hermeneutik wichtig, erklärt aber noch nicht, weshalb er sie in seiner Logik als einen zentralen Teil berücksichtigt. Als weiterführend für die Beantwortung dieser Frage erweist sich eine genau Analyse des Aufbaus der Logica vetus & nova. In einer Logiklandschaft, die dem Logikhistoriker hinsichtlich der behandelten Lehrstücke wenig aufregendes bietet, ändert sich das, wenn man die Logiken als Ganze in den Blick nimmt: Hier nun gibt es konkurrierende Modelle, in denen mehr zum Ausdruck kommt als die Anpassung der Logikwerke an die jeweilige Ausbildungsstätten, für die sie unter Umständen verfasst sind – vereinfacht gesagt: Es tobt bei Konstanz der Lehrstücke (die bei näherer Betrachtung freilich auch nicht immer gegeben ist) die Auseinandersetzung im Blick auf den richtigen oder angemessenen Aufbauder Logik. Zwar war das aristotelische Organon noch immer ein Muster, an dem sich auch die orientierten, die von Aristoteles abweichen wollten, aber man wusste nicht, wie sich sein Aufbau erklärt (dem Werk selber konnte man das nicht entnehmen), und vor allem bereitete Probleme, solche Lehrstückgruppen unterzubringen, die sich im Organon nicht finden – etwa die Methodenlehre oder eben die Hermeneutik. Es handelt sich dabei gerade nicht um ein pädagogisches, sondern um ein systematisches philosophisches Problem.

Um das zu erkennen, besteht eine Möglichkeit, die in dieser Hinsicht unterschiedlichen Logiktraditionen, mit denen Clauberg Kontakt gekommen ist, zu analysieren, nicht zuletzt auch die verschiedenen ramistisch inspirierten Logikwerke. Obwohl ihr Höhepunkt zur Zeit Claubergs Logica vetus & novalängst überschritten ist, gibt es regionale Besonderheiten, vor allem aber hinsichtlich des Schultyps, wo sich ramistische Lehrwerke aus verschiedenen Gründen länger halten konnten (in gewisser Hinsicht gehört hierzu das illustre Gymnasium in Bremen, aber auch die Niederlande). Komplizierend kommt hinzu, dass bekanntlich Descartes nichts verfasst hat, was mit einem logischen Lehrwerk vergleichbar gewesen wäre (mit dem man etwa den universitären Unterricht hätte gestalten können) und erschwerend hinzu kam für diejenigen, die eine logica cartesiana schaffen wollten, dass sich bei ihrem philosophischen Meister mitunter sehr rüde Äußerungen über die (traditionelle) Logik finden. Es wundert denn auch nicht, dass sich bei dem Versuch, eine logica cartesiana zu gestalten, verschiedene Traditionen verzweigen. Eine davon nimmt ihren Ausgang von Claubergs Logica vetus & nova, die aber auch noch auf die Logikproduktion zu wirken vermochte, wenn sie längst mit dezidiert kritischen Einstellungen zur (bestimmten Elementen) der Philosophie Descartes’ begeleitet wurde. Daher soll in dem Projekt auch den Spuren der Wirkung der Logica vetus & nova nachgegangen werden: Es gibt direkte Imitationen, ohne das kenntlich zu machen, es gibt Kommentare, es gibt aber mehr noch Adapationen an das Aufbaumuster, wobei nicht das gerade nicht heißt, dass man die gleichen Gründen wie Clauberg für diesen Typ des Aufbau der Logik gehabt oder zugestimmt hätte – ebenso wie es bei den nichtramistischen Logiken die Hermeneutik gemessen am aristotelischen Organon wohl immer denselben Platz erhält (bei Keckermann oder Dannhauer und auch bei Clauberg), aber bei wesentlich unterschiedlichen Begründungen.

Freilich kann diese nähere Betrachtung der Logiktradition und anderer Aspekte der epistemischen Situation Claubergs bei der Schaffung seiner Logica vetus & nova das Problem schärfer konturieren, letztlich lösen indes auch nicht. Dazu scheint es dann des Rückgriffs auf Clauberg als Theologe zu bedürfen, der dann von der nur einteiligen ersten Fassung der Logik (ohne Hermeneutik) zu der späteren vierteiligen Fassung von 1654. Ein letzter Umstand scheint die Erfolgsaussichten des ganzen Unternehmen stark zu beeinträchtigen: Weder von seiner ,großen’ Logik, Logica vetus & nova, noch von seiner kleinen, Logicacontracta, die im übrigen zu Claubergs Lebzeiten immer anonym erscheinen ist, gibt es die erste Auflage bzw. Dei erste Fassung; sie scheinen beide verschollen zu sein. Das, was offensichtlich ist, ist, dass sich seine ,große’ Logik massiv verändert hat in einem ganz kurzen Zeitraum; seine ,kleine’ Logik von Anbeginn und später hingegen keinen Part zur Hermeneutik enthält. Das macht das ganze Unternehmen zu einer gleichsam detektivischen Spurensuche, die das eine oder andere im Hypothetischen belassen muss. Zugleich bietet es so aber auch einen intellektuellen Reiz: Sollte ein Findiger die jeweils ersten Fassungen seiner Logikwerke aus irgendeiner Bibliothek ans Licht ziehen, so wäre es schön, wenn das nur zu Modifikationen der Ergebnisse des Projekts führen würde; aber vermutlich ist das bei einem so schwierigen Unternehmen schon eine unrealistische Hoffung.


Verknüpfungen

Vorarbeiten

  1. Lutz Danneberg, Die Auslegungslehre des Christian Thomasius in der Tradition von Logik und Hermeneutik. In: Friedrich Vollhardt (Hrg.), Christian Thomasius (1655-1728). Neue Forschungen im Kontext der Frühaufklärung. Tübingen 1997 (Frühe Neuzeit 37), S. 253-316
  2. – Logik und Hermeneutik: die analysis logica in den ramistischen Dialektiken. In: Uwe Scheffler und Klaus Wuttich (Hg.), Terminigebrauch und Folgebeziehung. Berlin 1998, S. 129-157
  3. – Schleiermacher und das Ende des Akkommodationsgedankens in derhermeneutica sacra des 17. und 18. Jahrhunderts. In: Ulrich Barth und Claus-Dieter Osthövener (Hg.): 200 Jahre »Reden über die Religion«. Berlin/New York 2000 (Schleiermacher-Archiv 19), S. 194-246
  4. – Logik und Hermeneutik im 17. Jahrhundert. In: Jan Schröder (Hg.), Theorie der Interpretation vom Humanismus bis zur Romantik – Rechtswissenschaft, Philosophie, Theologie. Stuttgart 2001 (Contubernium 58), S. 75-131 (frz. Übersetzung: Logique et herméneutique au XVIIe siècle. In: Jean-Claude Gens [Hg.], La logique herméneutique du XVIIe siècle – J.-C. Dannhauer et J. Clauberg. Argenteil 2006, S. 15-65)
  5. – Die Anatomie des Text-Körpers und Natur-Körpers: das Lesen im liber naturalis und supernaturalis. Berlin/New York 2003
  6. – Kontroverstheologie, Schriftauslegung und Logik als donum Dei: Bartholomaeus Keckermann und die Hermeneutik auf dem Weg in die Logik. In: Sabine Beckmann und Klaus Garber (Hg.), Kulturgeschichte Preußens königlich polnischen Anteils in der Frühen Neuzeit. Tübingen 2005 (Frühe Neuzeit 103), S. 435-563
  7. – Vom grammaticus und logicus über den analyticus zum hermeneuticus. In: Jörg Schönert und Friedrich Vollhardt (Hg.), Geschichte der Hermeneutik und die Methodik der textinterpretierenden Disziplinen. Berlin/New York 2005 (Historia Hermeneutica. Series I: Studia 1), S. 255-337

Kontakt: Lutz Danneberg

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