Bearbeitung: Lutz Danneberg
Johann Claubergs Lebensspanne fällt in eine Zeit anhaltender konfessioneller und machtpolitischer Konflikte in Mitteleuropa. Der Dreißigjährige Krieg, der wechselweise die Länder des Deutschen Reiches in Mitleidenschaft zieht und dabei zahlreiche Gelehrte zur Flucht treibt oder expatriiert, ist fortwährend präsent. Kaum ist Clauberg ein halbes Jahr alt, wird Heidelberg erobert und zahlreiche reformierte Universitätsangehörige verlassen die Stadt. Die Universität hört faktisch auf zu bestehen, und die berühmte Bibliotheca Palatina wird im Zuge der Eroberung geraubt und nach Rom gebracht, was indes ihren definitiven Verlust siebzig Jahre später verhindert haben dürfte. Von solchen Wirrnissen und kriegerischen Auseinandersetzungen scheint Clauberg auf den Stationen seiner Ausbildung jedoch nicht direkt betroffen zu sein.
Er ist gerade auf seiner peregrinatio academica, als im Westfälischen Frieden der Krieg mit der Bestätigung des Augsburger Religionsfriedens von 1555 beendet wird, nun allerdings unter Einschluss der Reformierten bzw. Calvinisten, mithin Claubergs Konfession. Seine Lebenszeit war kurz bemessen: Die Gründung der Londoner Royal Society hat er noch erlebt, die der Académie Royale des Sciencesschon nicht mehr, in der allerdings Cartesianer wie Jesuiten nicht zugelassen waren – nicht wegen spezieller Überzeugungen, sondern als Parteigänger rigider philosophischer und religiöser Ansichten. Viele seiner Freunde überlebten ihn, mitunter um vierzig Jahre, so auch seine Frau.
Gleichen Jahrgangs wie Clauberg war Jakob Thomasius (1622-1684), der in seinerPhysica perpetua Dialogo von 1670 ausführlicher auf ihn eingehen wird. Seinen Sohn, Christian Thomasius (1655-1728), wird die Logikauffassung Claubergs beeinflussen, und sein berühmtester Schüler, Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716), hätte ein Briefpartner Claubergs werden können. Doch als Leibniz 1666 an der philosophischen Fakultät in Leipzig mit der Disputatio Arithmetica de complexionibus, später erweitert als Dissertatio de arte combinatoria, habilitiert und ein Jahr später in Altdorf zum Doktor der beiden Rechte promoviert, lebt Clauberg schon nicht mehr. Es sind bei Leibniz nicht mehr geblieben als einige Kundgaben der Kenntnis – „Claubergius est Cartesii paraphrastes“ – und der Wertschätzung: „Cartesius voluit emendare quaedam in Physicis, displicet tamen audacia & fastus nimius, conjunctus cum styli obscuritale, confusione, maledicentia. Claubergius, discipulus ejus, planus, perspicuus, brevis, methodicus“. Für Leibniz ist er magistro clarior, wobei Clauberg bei diesem Urteil sicherlich auch von Abgrenzungsbemühungen profitiert, die Leibniz gegenüber René Descartes unternimmt, und davon, dass der junge Leibniz ebenfalls um eine „reconciliatio Aristotelis et rescentiorum Philosophorum“ bemüht ist. Zudem wird berichtet, Leibniz habe sich später – vergeblich – um den Erwerb des Werkes De caussis Germanicae Linguae aus dem Nachlass Claubergs bemüht. In seinen Überlegungen zur Verbesserung der Enzyklopädie Johann Heinrich Alsteds (1588-1638) will sich Leibniz neben der Logik von Joachim Jungius (1587-1657) und der von Port-Royal auch auf die Logica vetus & nova Claubergs stützen, die als quadripartita zuerst 1654 erscheint.
So kurz seine Lebensspanne auch bemessen war, Clauberg hat ein stattlichesŒuvre hinterlassen – in der Zeit allerdings nicht außergewöhnlich. Bartholomaeus Keckermann (1571/2-1609) ist für den Beginn des Jahrhunderts ein überragendes Beispiel. Clauberg sind zwei Jahre weniger als Benedictus de Spinoza (1632-1677) gegeben und in dem Alter, in dem er stirbt, hat Thomas Hobbes (1588-1679) noch kein einziges philosophisches Werk veröffentlicht und es liegt gerade die erste Publikation Descartes‘ vor. Clauberg war weder ein frühbegabter noch ein frühvollendeter. Das Thema, um das sein philosophisches Werk im wesentlichen kreist, ist die Auseinandersetzung mit der cartesianischen Philosophie. Das hat die Erinnerung an seine philosophische Leistung bewahrt, aber auch eingeschränkt. Heißt es bei Christian Wolff (1679-1754) noch positiv „optimus omnium confessione Cartesii interpres“ und zählt er Clauberg immerhin zu den Cartesianern, welche die Fehler der scholastischen Philosophie erkannt hätten, sie aber nicht beheben konnten, gilt er späteren nur mehr als erster ,Dolmetscher’ der cartesianischen Philosophie in Deutschland. Das hat die einschlägige Forschung in verschiedener Hinsicht mittlerweile zu korrigieren gewusst.
Nicht besser stand es, wenn sein Name mit dem Hinweis auf die angebliche Kreierung des Ausdrucks ontologia als terminus technicus von den Überblicksdarstellungen oder Nachschlagewerken in die Köpfe der Leser geriet. Die bibliothekarische Suche nach extraordinären Termini, die zum ersten Mal im Titel von philosophischen Werken auftreten, bildet eine der Schwundstufen in der Beschäftigung mit der Geschichte der Philosophie. Sie wurde vor geraumer Zeit im Zuge der Identifizierung des Ausdrucks hermeneutica im Titel eines Werkes zur sakralen Auslegungslehre – zeitgleich zu Clauberg – zum Anlass für ausgreifende Spekulationen genommen, die indes nur erkennen lassen, dass es an philosophiehistorischen Kenntnissen mangelt und wohl kaum länger der Blick in einem der betreffenden Werke verweilt hat.
Selbst wenn man die Leistungen Claubergs anerkannte, in ihm einen ‚Selbstdenker‘ zu sehen vermochte, dessen Vorträge sich wegen ihrer „Deutlichkeit“ und „Ordnung“ auszeichnen und der cartesianischen Philosophie nicht wenige ergänzende Konturen verliehen habe, so schwingt doch oftmals das Bedauern mit, seine Bindung an die cartesianische Philosophie habe ihn um tiefere Einsichten gebracht. Wie dem auch sei – zu berücksichtigen bleibt, dass ein Großteil seiner philosophischen Werke auf Konstellationen in seiner engeren und weiteren intellektuellen Umgebung reagieren. So ist der beträchtlichste Teil seiner Schriften zur Verteidigung und Erläuterung der philosophischen Überzeugungen Descartes‘ solchen Konstellationen geschuldet. Anders als in der Gegenwart taten sich in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts die novatores, die neotericischwer, ihre Innovation zu verteidigen, da die Rechtfertigung von Wissensansprüchen in besonderer Weise an die Konformität mit Aussagen in mehr oder weniger autoritativen Texten gebunden war. Innovationen gilt es in der Zeit, mit der Tradition zu verknüpfen. Claubergs logica ist eben vetus & nova, oder – auf den Punkt gebracht – „Aristotelico-cartesiana“. Er fungiert wie viele andere alsConciliator inter Aristotelem et Recentiores. Zu dieser Zeit sind Begründungen immer auch Ansprüche auf Anciennität intertextueller Bezüge; dem kann sich auch ein ,Cartesianer’ nicht verschließen.
Seit dem 16. Jahrhundert häufen sich in unterschiedlichen Bereichen Versuche, zunächst als divergierend oder gegensätzlich erscheinende Auffassungen und Lehrtraditionen einer Harmonie zuzuführen, zu konzilieren. Dass Descartes‘Œuvre unter der Feder Claubergs (aber auch anderer seiner Anhänger) mitunter aristotelischer ausfällt, als man es später sieht und heute in das nachreformatorische Jahrhundert einzuordnen pflegt, dass eine Aufnahme der cartesianischen Philosophie aufgelöst in einzelne Sentenzen, den integralen Versuch eines Neuansatzes teilweise zu verwischen droht, dass grundsätzliche Spannungen, die das cartesianische Philosophieren kennzeichnen mögen, ohne Nachklang bleiben, dass die Angleichungsbewegungen mitunter an die Trivialisierung von entscheidenden Momenten einer neuen Philosophie grenzen, wird heute ebenso wenig wundern wie seinerzeit die Verknüpfung von Auffassungen Descartes‘ mit denen Bacons oder Gassendis.
Den Ausgangspunkt für das Projekt bildet der Umstand, dass Claubergs Logica vetus & nova als ihren dritten von vier Teilen (quadripartita) eine Hermeneutik enthält. Freilich ist Clauberg nicht der erste, der eine hermeneutica generalisverfasst hat und ihr einen Platz in einem Lehrbuch der Logik geschaffen hat – also in einem Werk, in denen in der Zeit das geboten wird, was sich als eigen Art Wissenschaftslehre auffassen lässt. Ein Moment freilich lässt gerade das überraschend erscheinen: Der als Theologe wie als Philosoph ausgebildete Clauberg unternimmt das vor einem ausgesprochen cartesianischen philosophischen Hintergrund. Es überrascht bei einem so dezidierter Anhänger eines Philosophen, der aus seiner Ablehnung der Wissensgewinnung aus dem Lesen von (fremden) Büchern keinen Hehl macht und der, wenn auch eher am Rande, zwischen der cognitio historica und der cognitio philsophicaunterscheidet hat und dem die Philologen nicht mehr als ein historisches Wissen über opiniones, nicht aber über die veritas, zu bieten vermögen. An einer Stelle in seiner Logica vetus & nova heißt es: Uns lege bereits die Vernunft nahe, die Auffassung eines Autors eher durch seinen Schüler als durch seinen Gegner in Erfahrung zu bringen – eine Variation auf: „Jeder beurteilt dasjenige richtig, was er kennt, und ist darin ein guter Richter“ (Aristoteles, Nik Eth, I, 1). Clauberg fährt fort: Wie nämlich irgendein Franzose einen Spanier, mit dem er im Krieg liegt, dem Betrachter kaum anders vor Augen stellen kann als in grotesker Gestalt und Erscheinung auf einer Theaterbühne; ebenso geschieht nicht selten, dass ein Gegner – weil er gierig nach dem greift, was er verspotten kann – dem Autor Ansichten unterstellt, die dieser nicht vertritt. Desgleichen ereignet es sich oft, dass ein Gegner dem Leser die Ansichten des Autors vollkommen ungereimt beschreibt, damit er sie um so leichter widerlegen kann. Daher befindet sich derjenige im Irrtum, der glaubt, dass man über die Ansichten des Aristoteles bei Ramus oder über die Ansichten des Descartes bei denjenigen informiert werden könne, die sich ihm bis heute eher aus Leidenschaft als aus Vernunftgründen widersetzt haben.
Gegen solche caluminatores, die freilich mittlerweile nur dem Fachgelehrten wenigstens dem Namen nach vertraut sind, verteidigt Clauberg seinen philosophischen Meister, obgleich er katholisch ist und zudem noch – horribiledictu – eine jesuitische Erziehung genoss, in nicht wenigen Schriften. Aber auch in seiner Hermeneutik zeigen Spuren davon. Freilich ist in ihr diese Bezugnahme auf den philosophischen Meister nur subkutan und lässt sich nur indirekt ermitteln, etwa wenn Clauberg eine Anweisung zum richtigen Lesen darlegt, die Descartes im Hinblick auf die aufmerksame und gründlichen Lektüre seiner eigenen Schrift gelegentlich formuliert hat. Doch reicht das mitnichten aus, um zu erklären, weshalb in einer cartesianisch-aristotelischen Logik, wobei weder bei dem einen noch bei dem anderen das eine Vorprägung besitzt, die hermeneutica generalis nicht nur erwähnt wird und ihre Lehrstücke mehr oder weniger sporadisch abgehandelt werden, sondern sie einensystematisch begründeten Platz in dem Aufbau dieser Logik einnimmt. Um das zu erklären, muss freilich weit ausgeholt werden.
Dazu gehört seine Ausbildung, die er am illustren Gymnasium in Bremen nach dem Niedergang Herborns eine der bedeutendsten Bildungsstätten der Reformierten im deutschsprachigen Raum, und das den Universitäten kaum nachstand, freilich kein Promotionsrecht besaß. Der Einfluss in den Niederlanden, wo er sein Studium der cartesianischen Philosophie in einer Gruppe gleichgesinnter Theologen und Philosophen unternimmt. Sodann die Eindrücke, die er auf seiner peregrinatio academica sammelt, die ihn nach Paris, aber auch London führt, vor allem aber an die Akademie von Saumur, einer der Eliteschulen der Hugenotten, nicht zuletzt durch seinen Lehrer dort Moise Amyraut (1596-1664). Später dann an seiner Wirkungsstätte, der neugegründeten Universität in Duisburg. In diesen intellektuellen Welten und Stationen wird er nicht wenigen mehrfach begegnen, nicht wenige haben Einfluss auf ihn, wie etwa der ebenfalls im Bremer Gymnasium ausgebildete, aber schon früher in die Niederlande gegangene Coccejus (1603-1669) – zur Zeit Claubergs bereits eine theologische Berühmtheit und der auch auf Claubergs Hermeneutikvorstellung nicht ohne Einfluss geblieben ist. Später, am Ende des Säkulums und durchgängig im 18. Jahrhundert, ist der Name sprichwörtlich geworden (principia Cocceji) für das Überinterpretieren der Heiligen Schrift, dessensus fecundus oder latius, der Sinnabundanz, angesichts seiner Maxime Verba scripturae tantum significant ubique, quantum significare possunt. In der Tat gibt es Begründungen, bei denen sich der ,Cartesianismus’ mit dem ,Coccejanismus’ im Werk Claubergs verbindet.
Claubergs Lebensweg haben zahlreiche Gelehrten gekreuzt und mehr oder weniger lange begeleitet; darunter sind erstaunlich viele Philologen, mit denen er Umgang gepflegt hat. Ein glücklicher Umstand erleichtert die Spurensuche: Anders als sein philosophischer Meister findet sich in Claubergs Werken eine Fülle von Bezugnahmen, die mehr oder weniger explizit sind – nicht nur im Blick auf Zeitgenossen oder erst vor kurzem verstorbene Philosophen (wie Bacon), sondern auch neu zugänglich gewordenem (wie Maimonides). Als Cartesianer, zumindest der ersten Generation, konnte man durchaus ,gelehrt’ sein. Clauberg scheint zudem an einigen seiner Werke noch nach ihrer Veröffentlichung gearbeitet zu haben – übrigens ist ihre Verbreitung erstaunlich, durch sie selbst wie durch Bearbeitung und Kommentierungen (das Projekt versucht, denen auch ein vollständige Aufnahme der Schriften Claubergs samt ihrer Ausgaben). Seinem Sohn ist es zu danken, dass ihre Ausgabe in der (nicht vollständigen) Sammlung seiner opera omnia auch Zutaten aus den Manuskripten Claubergs enthält und oft handelt es sich dabei um Verweise.
Neben Frans Burmann (1628-1679), Antonius Perizonius (Voorbroek 1626-1672),Friedrich Georg Graevius (1632-1703), Johann Friedrich Gronovius (1611-1671) und vor allem neben Tobias Andreae (1604-1676) sowie anderen ist es ein einziger, ebenfalls zugleich Theologe und Philosoph, der eine besondere Stellung einnimmt: Es ist Claubergs Freund Christoph Wittich (1625-1687). Sein Werk, das freilich eine eigene Würdigung verdient, bietet Aufschlüsse über Claubergs Ansichten, da gleichsam in Arbeitsteilung Wittich Themen ausführlich erörtert, die Clauberg mehr oder weniger in seinen Werken nur streift – das was Wittich in seinem Abschiedsgedicht auf Clauberg schreibt, hätte dieser auch auf ihn schreiben können: „Er war mein ander Ich nun lange zeit gewesen/ Wir hatten manches buch zusammen durch gelesen.“ Das wichtigste Thema für die Hermeneutik ist der Gedanke der Akkommodation, des sensus accommodatus. In verschiedener Hinsicht findet sich ist bereits als condescensio bei den Kirchenvätern, es findet sich bei Thomas von Aquin ebenso wie bei Calvin, nun aber in der Mitte des 17. Jahrhunderts betont verstanden als eine situativeHerblassung Gottes in der Heiligen Schrift ad captum vulgi. Ähnliche Auffassungen hat es sehr vereinzelt bereits im 16. Jahrhundert gegeben, sie finden sich bei Kepler ebenso wie bei Galilei – immer angesichts des Widerstreits zwischen neuerer heliostatischer Theorien und dem sensus litteralis der Heiligen Schrift.
Die Behebung des Konflikts zwischen sensus litteralis und neuem Wissen geschieht unter anderem, indem man den patristischen Gedanken der Akkommodation zwar aufgreift, ihn aner an die veränderte Problemsituation anpasst. In die einfachste Formel gebracht: Es handelt sich darum das Problem zu lösen, die Zuständigkeit der Heiligen Schrift hinsichtlich bestimmter Wissensansprüche einzuschränken, ohne dass ihre Autorität und Dignität Einbußen erleiden – es handelt sich hier um eine Variante des allgemeinen Autoritätsproblems: Etwas an Autorität zu nehmen, ohne damit seine ganze Autorität zu zerstören. Das Problem lässt sich (in einer bestimmten epistemischen Situation) nur lösen, wenn man diesen Mangel der Heiligen Schrift als nur scheinbar oder so erklären kann, dass er ihr nicht wirklich abträglich ist. Das, was diesem Gedanken im niederländischen Umfeld seine besondere Sprengkraft verleiht, ist die Verbindung mit der cartesianischen Philosophie; kurzum mit der Unterscheidung zwischen cognitio communis (auchvulgaris) und cognitio philosophica (auch accurata), und zwar in vierfacher Hinsicht: hinsichtlich der Wissensträger – das allgemeine Wissen richte sich an alle, das philosophische beschränke sich auf die Vertreter der Profession (der jeweiligen Disziplin); hinsichtlich der Mittel der Wissens-Erlangung – bei jenem stünden sie allen zur Verfügung, bei diesem sei die Befreiung von Vorurteilen mittels der gesunden Vernunft sowie ein bestimmtes Maß an Aufmerksamkeit erforderlich; hinsichtlich des Nutzens und des Ziels der Betrachtung – der Gegenstand der allgemeinen Wissensansprüche sei aufgrund seines Bezuges auf die Sinne und das Leben allen gemeinsam, demgegenüber beziehe sich das philosophische Wissen auf die Ursachen oder die absoluten Dinge; schließlich hinsichtlich des Gewißheitsgrades – jene müsse sich mit Probabilitäten im Status der Meinung bescheiden, kann keine gewußte Wahrheit beanspruchen, diese biete mit der certitudo metaphysica höchste (menschlich) erreichbare Gewißheit.
Der Knackpunkt ist dabei – mehr oder weniger ausgesprochen: Gottes Akt der Herablassung in seinen Schriften wird (freilich zunächst im wesentlichen nur für das Alte Testament und nur in Fragen der Naturdinge) historisiert. Seine Herablassung betrifft nur diejenigen, die über die cognitio communis (in Naturdingen) nicht hinauskommen; zugleich aber gibt es solche, das sind die Philosophen, die mit ihrer cognitio philosophica darüber hinaus kommen und für alle die, die über ei cognitio philosophica verfügen, ist oder wäre die Herablassung nicht erforderlich. Zum Verständnis der Hermeneutik Claubergs gehört denn auch der anhaltende Konflikt hinsichtlich der Bestimmung der Beziehung zwischen Philosophie und Theologie und lässt sich so sehen als eine der Etappen auf dem langen Weg der selbstbewussten philosophischen Überbietungsgesten, die um die Wende zum 19. Jahrhundert ihren Höhepunkt erfahren.
Alles das ist für Claubergs Sicht der Hermeneutik wichtig, erklärt aber noch nicht, weshalb er sie in seiner Logik als einen zentralen Teil berücksichtigt. Als weiterführend für die Beantwortung dieser Frage erweist sich eine genau Analyse des Aufbaus der Logica vetus & nova. In einer Logiklandschaft, die dem Logikhistoriker hinsichtlich der behandelten Lehrstücke wenig aufregendes bietet, ändert sich das, wenn man die Logiken als Ganze in den Blick nimmt: Hier nun gibt es konkurrierende Modelle, in denen mehr zum Ausdruck kommt als die Anpassung der Logikwerke an die jeweilige Ausbildungsstätten, für die sie unter Umständen verfasst sind – vereinfacht gesagt: Es tobt bei Konstanz der Lehrstücke (die bei näherer Betrachtung freilich auch nicht immer gegeben ist) die Auseinandersetzung im Blick auf den richtigen oder angemessenen Aufbauder Logik. Zwar war das aristotelische Organon noch immer ein Muster, an dem sich auch die orientierten, die von Aristoteles abweichen wollten, aber man wusste nicht, wie sich sein Aufbau erklärt (dem Werk selber konnte man das nicht entnehmen), und vor allem bereitete Probleme, solche Lehrstückgruppen unterzubringen, die sich im Organon nicht finden – etwa die Methodenlehre oder eben die Hermeneutik. Es handelt sich dabei gerade nicht um ein pädagogisches, sondern um ein systematisches philosophisches Problem.
Um das zu erkennen, besteht eine Möglichkeit, die in dieser Hinsicht unterschiedlichen Logiktraditionen, mit denen Clauberg Kontakt gekommen ist, zu analysieren, nicht zuletzt auch die verschiedenen ramistisch inspirierten Logikwerke. Obwohl ihr Höhepunkt zur Zeit Claubergs Logica vetus & novalängst überschritten ist, gibt es regionale Besonderheiten, vor allem aber hinsichtlich des Schultyps, wo sich ramistische Lehrwerke aus verschiedenen Gründen länger halten konnten (in gewisser Hinsicht gehört hierzu das illustre Gymnasium in Bremen, aber auch die Niederlande). Komplizierend kommt hinzu, dass bekanntlich Descartes nichts verfasst hat, was mit einem logischen Lehrwerk vergleichbar gewesen wäre (mit dem man etwa den universitären Unterricht hätte gestalten können) und erschwerend hinzu kam für diejenigen, die eine logica cartesiana schaffen wollten, dass sich bei ihrem philosophischen Meister mitunter sehr rüde Äußerungen über die (traditionelle) Logik finden. Es wundert denn auch nicht, dass sich bei dem Versuch, eine logica cartesiana zu gestalten, verschiedene Traditionen verzweigen. Eine davon nimmt ihren Ausgang von Claubergs Logica vetus & nova, die aber auch noch auf die Logikproduktion zu wirken vermochte, wenn sie längst mit dezidiert kritischen Einstellungen zur (bestimmten Elementen) der Philosophie Descartes’ begeleitet wurde. Daher soll in dem Projekt auch den Spuren der Wirkung der Logica vetus & nova nachgegangen werden: Es gibt direkte Imitationen, ohne das kenntlich zu machen, es gibt Kommentare, es gibt aber mehr noch Adapationen an das Aufbaumuster, wobei nicht das gerade nicht heißt, dass man die gleichen Gründen wie Clauberg für diesen Typ des Aufbau der Logik gehabt oder zugestimmt hätte – ebenso wie es bei den nichtramistischen Logiken die Hermeneutik gemessen am aristotelischen Organon wohl immer denselben Platz erhält (bei Keckermann oder Dannhauer und auch bei Clauberg), aber bei wesentlich unterschiedlichen Begründungen.
Freilich kann diese nähere Betrachtung der Logiktradition und anderer Aspekte der epistemischen Situation Claubergs bei der Schaffung seiner Logica vetus & nova das Problem schärfer konturieren, letztlich lösen indes auch nicht. Dazu scheint es dann des Rückgriffs auf Clauberg als Theologe zu bedürfen, der dann von der nur einteiligen ersten Fassung der Logik (ohne Hermeneutik) zu der späteren vierteiligen Fassung von 1654. Ein letzter Umstand scheint die Erfolgsaussichten des ganzen Unternehmen stark zu beeinträchtigen: Weder von seiner ,großen’ Logik, Logica vetus & nova, noch von seiner kleinen, Logicacontracta, die im übrigen zu Claubergs Lebzeiten immer anonym erscheinen ist, gibt es die erste Auflage bzw. Dei erste Fassung; sie scheinen beide verschollen zu sein. Das, was offensichtlich ist, ist, dass sich seine ,große’ Logik massiv verändert hat in einem ganz kurzen Zeitraum; seine ,kleine’ Logik von Anbeginn und später hingegen keinen Part zur Hermeneutik enthält. Das macht das ganze Unternehmen zu einer gleichsam detektivischen Spurensuche, die das eine oder andere im Hypothetischen belassen muss. Zugleich bietet es so aber auch einen intellektuellen Reiz: Sollte ein Findiger die jeweils ersten Fassungen seiner Logikwerke aus irgendeiner Bibliothek ans Licht ziehen, so wäre es schön, wenn das nur zu Modifikationen der Ergebnisse des Projekts führen würde; aber vermutlich ist das bei einem so schwierigen Unternehmen schon eine unrealistische Hoffung.
Verknüpfungen
- Der ordo inversus in Hermeneutik und Naturphilosophie
- Hermeneutik um 1600: Logica und probatio theologica
- Hermeneutik um 1700: philologia sacra und hermeneutica iuris
- Auctoritas und Testimonium: Epistemologien der Glaubwürdigkeit und des Vertrauens
Vorarbeiten
- Lutz Danneberg, Die Auslegungslehre des Christian Thomasius in der Tradition von Logik und Hermeneutik. In: Friedrich Vollhardt (Hrg.), Christian Thomasius (1655-1728). Neue Forschungen im Kontext der Frühaufklärung. Tübingen 1997 (Frühe Neuzeit 37), S. 253-316
- – Logik und Hermeneutik: die analysis logica in den ramistischen Dialektiken. In: Uwe Scheffler und Klaus Wuttich (Hg.), Terminigebrauch und Folgebeziehung. Berlin 1998, S. 129-157
- – Schleiermacher und das Ende des Akkommodationsgedankens in derhermeneutica sacra des 17. und 18. Jahrhunderts. In: Ulrich Barth und Claus-Dieter Osthövener (Hg.): 200 Jahre »Reden über die Religion«. Berlin/New York 2000 (Schleiermacher-Archiv 19), S. 194-246
- – Logik und Hermeneutik im 17. Jahrhundert. In: Jan Schröder (Hg.), Theorie der Interpretation vom Humanismus bis zur Romantik – Rechtswissenschaft, Philosophie, Theologie. Stuttgart 2001 (Contubernium 58), S. 75-131 (frz. Übersetzung: Logique et herméneutique au XVIIe siècle. In: Jean-Claude Gens [Hg.], La logique herméneutique du XVIIe siècle – J.-C. Dannhauer et J. Clauberg. Argenteil 2006, S. 15-65)
- – Die Anatomie des Text-Körpers und Natur-Körpers: das Lesen im liber naturalis und supernaturalis. Berlin/New York 2003
- – Kontroverstheologie, Schriftauslegung und Logik als donum Dei: Bartholomaeus Keckermann und die Hermeneutik auf dem Weg in die Logik. In: Sabine Beckmann und Klaus Garber (Hg.), Kulturgeschichte Preußens königlich polnischen Anteils in der Frühen Neuzeit. Tübingen 2005 (Frühe Neuzeit 103), S. 435-563
- – Vom grammaticus und logicus über den analyticus zum hermeneuticus. In: Jörg Schönert und Friedrich Vollhardt (Hg.), Geschichte der Hermeneutik und die Methodik der textinterpretierenden Disziplinen. Berlin/New York 2005 (Historia Hermeneutica. Series I: Studia 1), S. 255-337
Kontakt: Lutz Danneberg