Weltanschauungsliteratur 1860–1940. Wissen, Textstrukturen, Kontexte

Bearbeitung: Andrea Albrecht, Lutz Danneberg, Olav Krämer

Texte der ‚Weltanschauungsliteratur‘ sind nach Horst Thomés Bestimmung Texte, „die den expliziten Anspruch erheben, die ‚Weltanschauung‘ des Verfassers argumentativ darzustellen“. Typischerweise verbinden sie dabei „breite Darlegungen wissenschaftlicher Ergebnisse mit waghalsigen Hypothesen, metaphysischen Theoriefragmenten, autobiographischen Mitteilungen, persönlichen Glaubensbekenntnissen, ethischen Handlungsanweisungen, zeitpolitischen Diagnosen und gesellschaftlichen Ordnungsmodellen“ (Thomé 2002a, S. 338). Weltanschauungsliteratur in diesem Sinne wurde in Deutschland zwischen ca. 1860 und 1940 in großem Umfang produziert und breit rezipiert. Nicht wenige Werke dieses Typs avancierten zu Bestsellern (Wilhelm Bölsche, Ernst Haeckel, Oswald Spengler u.a.).

Thomé hat seine einschlägigen Untersuchungen ausdrücklich als „Vorüberlegungen“, als erste Annäherungen an einen komplexen Phänomenbereich präsentiert. Seine Vorschläge sind daher notgedrungen skizzenhaft und großflächig formuliert; die Beobachtungen zur charakteristischen Textorganisation stützen sich auf Analysen einer kleinen Zahl von Weltanschauungstexten und beziehen nur am Rande auch formale Merkmale (z.B. Schreibverfahren, Rhetorik, äußere Textgestalt, Zitationspraxis) mit in die Charakterisierung der Textsorte ein. Entscheidende Aspekte des weitläufigen Gegenstands, die eine eingehende Betrachtung verdienen, sind somit von der Forschung bislang nur ansatzweise thematisiert worden. Dies gilt bereits für die begriffshistorische und systematische Konturierung (vgl. Müller 2010; Thomé 2004; Stock/Moxter u.a. 2003) des in der Zeit des Deutschen Idealismus in Mode kommenden Kompositums „Weltanschauung“ und seines Verhältnisses zu konkurrierenden Ausdrücken wie „Weltbild“ und „Weltauffassung“, aber auch „Philosophie“ (vgl. Eisler 1904, S. 720) und „Ideologie“. Ist „Weltanschauung“ eher eine Fremd- oder eine Selbstzuschreibung? Sind Totalisierungs- oder Pluralisierungserwartungen mit dem Ausdruck verknüpft? Die Darstellungen von Wilhelm Dilthey, Karl Jaspers, Karl Mannheim, Max Scheler und anderen, in denen „Weltanschauungen“ typologisiert und in philosophischer Hinsicht systematisiert werden, können hier Aufschluss geben, müssen sich in ihren begrifflichen Festlegungen aber nicht mit der weltanschauungsliterarischen Ausrichtung decken. Für diese ‚Praxis‘ ist zu fragen, wie Weltanschauungsliteratur und zeitgenössische ‚schöne Literatur‘ (etwa Roman und Epos) sich gegenseitig beeinflussen, wie sich das seit etwa 1900 bestehende Nebeneinander von Weltanschauungsliteratur und Weltanschauungsforschung sowie die Überschneidungen zwischen ihnen gestalten und wie sich die Beziehungen zwischen weltanschauungsliterarischen und populär- (vgl. Daum 2002; Schwarz 1999; Wolfschmidt 2000) oder auch pseudowissenschaftlichen Schriften (vgl. Butts 1993; Rupnow et al. 2008) charakterisieren lassen. In welchem Verhältnis steht die Weltanschauungsliteratur zu den um wissenschaftliche Anerkennung ringenden ‚Universaltheorien‘ wie zum Beispiel dem Monismus, der Welteislehre, dem Energetismus oder der Astrologie? Welche historischen Verlaufsformen lassen sich hier erkennen, welche Parallelentwicklungen oder auch Vor- und Nachzeitigkeiten von Wissenschaft und Weltanschauung sind detektierbar? Zu berücksichtigen ist generell, dass sich der universalistische Erklärungs- und Geltungsanspruch sowohl auf die ‚Welt‘ als auch auf die Träger der Weltanschauung beziehen kann; die Trägerschicht kann aber auch partikularisiert werden, so dass schließlich gruppenspezifische Weltanschauungen gegeneinander gestellt werden können. Im Unterschied zu Ideologien, die in der Regel gruppengebunden zu sein scheinen, kann sich sogar die Idee individueller Weltanschauungen ausbilden (vgl. z.B. Mauthner 1923).

Ebenso unzureichend geklärt ist bislang auch das Verhältnis zwischen Weltanschauungsliteratur und Kulturkritik (vgl. Bollenbeck 2007, insbes. S. 208f.; ferner Heinßen 2003) und die Affinität zur Publizistik der NS-Zeit (vgl. u.a. Becker/Bongartz (Hg.) 2011). Die sich rechts wie links des politischen Spektrums vollziehende Politisierung des Ausdruck „Weltanschauung“ führt in den 1920er und 1930er Jahren zu einem Nebeneinander von pejorativen und affirmativen Begriffsverwendungen. Der Ausdruck „Weltauffassung“, auch „wissenschaftliche Weltauffassung“, wie er im Kontext des Logischen Empirismus gebraucht wird, scheint hingegen weitgehend positiv konnotiert zu sein – aber auch dies wäre erst noch eingehender zu prüfen. Offen ist auch noch die Frage, ob die Weltanschauungsliteratur ein spezifisch deutsches Phänomen war oder welche vergleichbaren Erscheinungen es in anderen europäischen Ländern gab.

Das Projekt versucht eine repräsentative Anzahl von Weltanschauungstexten sowie von Rezeptionsdokumenten aus dem Zeitraum von 1860 bis 1940 systematisch zu erschließen, um auf einer solchen Basis dieses zwar heterogene, aber gleichwohl signifikante Phänomen im Kontext der Moderne zu verorten und hinsichtlich seiner Indikator- und Faktorfunktion für die intellectual history auszuloten.

Literaturhinweise

Manuel Becker, Stephanie Bongartz (Hg.), Die weltanschaulichen Grundlagen des NS-Regimes: Ursprünge, Gegenentwürfe, Berlin 2011.

Georg Bollenbeck, Eine Geschichte der Kulturkritik: von J.J. Rousseau bis G. Anders, München 2007.

Robert E. Butts, Sciences and Pseudosciences. In: John Earman et al. (Hg.), Philosophical Problems of the Internal and External Worlds […]. Pittsburgh/Konstanz 1993, S. 163-185.

Andreas Daum, Wissenschaftspopularisierung im 19. Jahrhundert: Bürgerliche Kultur, naturwissenschaftliche Bildung und die deutsche Öffentlichkeit, 1848-1914, 2., erg. Aufl. München 2002.

Rudolf Eisler, Art. „Weltanschauung“, in: Wörterbuch der philosophischen Begriffe, 2. Aufl. Berlin 1904, S. 720.

Johannes Heinßen, Historismus und Kulturkritik. Studien zur deutschen Geschichtskultur im späten 19. Jahrhundert, Göttingen 2003.

Fritz Mauthner, Art. „Weltanschauung“, in: Wörterbuch der Philosophie. Leipzig, 2. Aufl. 1923, Band 3, S. 429-431.

Arnulf Müller, Weltanschauung – eine Herausforderung für Martin Heideggers Philosophiebegriff, Stuttgart 2010.

Dirk Rupnow et al. (Hg.), Pseudowissenschaft. Konzeptionen von Nichtwissenschaftlichkeit in der Wissenschaftsgeschichte, Frankfurt am Main 2008.

Angela Schwarz, Der Schlüssel zur modernen Welt. Wissenschaftspopularisierung in Großbritannien und Deutschland im Übergang der Moderne (1870-1914), Stuttgart 1999.

Konrad Stock, Michael Moxter u.a.: Art. Welt/Weltanschauung/Weltbild. In: Theologische Realenzyklopädie 35, Berlin 2003, S. 536-611.

Horst Thomé, Weltanschauungsliteratur. Vorüberlegungen zu Funktion und Texttyp. In: Wissen in Literatur im 19. Jahrhundert. Hg. von Lutz Danneberg und Friedrich Vollhardt. Tübingen 2002, S. 338–380 [= Thomé 2002a].

Horst Thomé, Geschichtsspekulation als Weltanschauungsliteratur. Zu Oswald Spenglers Der Untergang des Abendlandes. In: Literatur und Wissen(schaften) 1890-1935. Hg. v. Michael Titzmann und Christine Maillard, Stuttgart 2002, S. 193-212 [= Thomé 2002b].

Horst Thomé, Der Blick auf das Ganze. Zum Ursprung des Konzepts „Weltanschauung“ und der Weltanschauungsliteratur. In: Aufklärungen: Zur Literaturgeschichte der Moderne. Hg. v. Werner Frick u. a., Tübingen 2003, S. 387-401.

Horst Thomé, Art. „Weltanschauung“, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, 12. Bd., Basel 2004, Sp. 453-460.

Gudrun Wolfschmidt (Hg.), Popularisierung der Naturwissenschaften, Berlin 2000.

Kontakt: Olav Krämer olav.kraemer@germanistik.uni-freiburg.de

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