Kontrafaktische Imaginationen in der Wissensgeschichte

Bearbeitung: Andrea Albrecht, Lutz Danneberg

Bei der Untersuchung von kontrafaktischer Imaginationen soll der Ausdruck ,Imagination’ als nicht problematisch gelten, wohingegen es zu charakterisieren gilt, wann Imaginationen kontrafaktisch sind. Obwohl im Mittelalter einige der Imaginationen, die sich als kontrafaktische ansprechen lassen, unter Ausdrücken wie quaestiones secundum imaginationem, per impossibile oderpositio impossibilis verhandelt finden, scheint es nicht unwichtig, anzugeben, was unter kontrafaktischen Imaginationen zu verstehen ist. Denn zum Problem werden solche Imaginationen nicht allein angesichts ihrer Bestimmung, sondern vornehmlich dann, wenn man die Kontexte ihrer Verwendung sieht und die Frage stellt, was ihre Verwendung hierbei motiviert, und man zugleich feststellt, dass kontrafaktische Imaginationen alles andere als selten sind. Auf den ersten Blick rätselhaft sind sie gerade wegen des Kontextes ihrer Verwendung, wenn dieser Kontext sichere Signale dafür bietet, dass er als argumentativ zu verstehen ist, mithin in ihm ein Wahrheitsanspruch verfolgt wird.

Bislang hat in der Philosophie- wie Wissenschaftsgeschichte (wenn überhaupt) das, was als kontrafaktische Imaginationen anzusehen ist, nur wenig Aufmerksamkeit gefunden, und wenn, dann immer nur punktuell angesichts bestimmter Verwendungsweisen – etwa als ,Gedankenexperimente’. Doch die historischen Formen gedankenexperimentellen Argumentierens sind mit dem kontrafaktischen Imaginieren nur verschwistert. Es sind mithin nicht beliebige Imaginationen, um die es geht, sondern solche, die als besonders abweichend erscheinen.

Sollen verschiedene Arten von Imaginationen unterschieden werden, so bedarf es eines relationalen Bezugspunktes. Aufgrund ihres Auftretens in argumentativen Kontexten liegt als ein solcher Bezugspunkt das zeit-, orts- und personenbezogene Anerkennen von Wissen(sansprüchen) nahe. Dieser Bezugspunkt ist mithin veränderlich, und bereits daraus folgt, dass etwas, das zu einem bestimmten Zeitpunkt als kontrafaktische Imagination angesehen wird, bei verändertem Wissen diesen Charakter verlieren kann. Es sind allerdings noch zwei Unklarheiten zu beheben: beim Ausdruck Wissen und bei dem, was als geteiltes Wissen gilt. Aufgrund der angenommenen Veränderlichkeit meint in der Rekonstruktionssprache Wissen immer Wissensanspruch, und alsWissensanspruch zu einer bestimmten Zeit sollen solche kognitiven Einheiten aufgefasst werden, über die man sich in der Zeit streiten konnte oder auch gestritten hat – das schließt immer Stimmen ein, die bestimmte Wissensansprüche durch Ausgrenzung zu entproblematisieren suchten. Beim Streit um die Erdbewegungen handelt es sich dann ebenso um einen Streit umWissensansprüche wie bei dem um die Bedeutung der Einsetzungsworte beim Abendmahl oder bei den Kontroversen zur biblischen Chronologie.

Wenn ein Wissensanspruch strittig ist – und nach der hier gewählten Rekonstruktionssprache handelt es sich um eine notwendige Bedingung für einen solchen –, dann setzt das immer andere Wissensansprüche voraus, die man in der Zeit nicht für falsch hält. In der Sprache der Akteure gibt es also Wissensansprüche, die sie als Wissen ansehen. Das führt zur zweiten zu behebenden Unklarheit, die sich auf das geteilte Wissen bezieht. Im wesentlichen handelt es sich dabei um epistemische Einstellungen gegenüber kognitiven Einheiten, also in der gewählten Rekonstruktionssprache: gegenüber Wissensansprüchen. Diese epistemischen Einstellungen lassen sich klassifizieren, und dabei lässt sich weitgehend auf die von den Akteuren verwendeten Konzepte zurückgreifen. Zwar unterliegen auch sie einem historischen Wandel, doch sind sie zumindest in dem Zeitraum, auf den sich das Projekt weitgehend, wenn auch nicht ausschließlich konzentriert, in den oberen Rängen der Hierarchie vergleichsweise stabil.

An der Spitze der Hierarchie steht ein Wissen, von dem man annimmt, dass der Mensch naturhaft schon in seinem Besitz sei, es ist, wenn man so will, das dem Verstand naturhaft vertraute, seinsmäßig bekannte Wissen – so die ersten unbeweisbaren Prinzipien der Beweise wie etwa: ,was ist, kann nicht zugleich nicht sein’ oder ,das Ganze ist größer als seine Teile’. Dieses Wissen gilt als unbezweifelbar gewiss – als certitudo mathematica oder metaphysica (Wcma); darunter rangiert das Wissen, das zwar als weniger gewiss, aber als sicher wahr gilt – bezeichnet als certitudo physicalis (Wcp); darunter findet sich das Wissen, bei dem eine für das Handeln ausreichende Gewissheit gesehen wird – bezeichnet als certitudo practica oder certitudo moralis (Wcmo); darauf folgen die Wissensansprüche, die wahrscheinlicher (probabilior) ihre Konkurrentinnen sind (Wpp); schließlich solche Wissensansprüche, die im Unterschied zu nichtwahrscheinlichen nur als wahrscheinlich gelten (Wp). Es lassen sich nun grob die folgenden Zuordnungen hinsichtlich des Konflikts mit den unterschiedenen Stufen der Gewissheitshierarchie vornehmen:

  • Wenn mit Wcma in Konflikt, dann handelt es sich um unsinnige Imaginationen
  • Wenn mit Wcp in Konflikt, dann handelt es sich um kontrafaktische Imaginationen
  • Wenn mit Wcmo in Konflikt, dann handelt es sich um hypothetische Imaginationen
  • Wenn mit Wpp in Konflikt, dann handelt es sich um alternative Hypothesen

Imaginationen sind mithin kontrafaktisch – und nicht etwa hypothetisch –, wenn sie mit Wissensansprüchen im Modus der certitudo physicalis konfligieren. Es handelt sich bei dem, was kontrafaktischen Imaginationen ihren speziellen Charakter verleiht, zudem um Wissensansprüche, die selbst nicht wahrscheinlich sind und daher auch in Konflikt stehen mit solchen, die alsWcmo oder Wpp epistemisch beurteilt werden. Während kontrafaktisch das Produkt des Imaginierens charakterisiert, braucht das Imaginieren als Vorgang keiner zusätzlichen Bestimmung. Bei ihm können beispielsweise Abstraktionenoder Idealisierungen beteiligt sein, ohne dass sie immer zu kontrafaktischen Imaginationen führen müssen.

Im Vergleich zu ,Begriff’ und ,Metapher’ bildet die kontrafaktische Imagination genau die Mitte: Wie die begriffliche Darstellungsweise ist die kontrafaktische nichtmetaphorisch, aber ihr fehlt der explizite Wahrheitsanspruch. Wie die Metapher ist sie offenkundig falsch, aber ihren kontrafaktischen Charakter verliert sie nicht durch Metaphorisierung. Jedem metaphorischen Sprachgebrauch liegt (in der Regel) eine im wörtlichen Verständnis falsche Aussage zugrunde, die zudem als so offenkundig erscheint, dass man die schlichte Falschheit der Aussage aufgrund der Konsequenzen für den gesamten argumentativen Zusammenhang nicht akzeptiert. Aber der metaphorische Sprachgebrauch beruht nicht auf einer kontrafaktischen Annahme. Zwar mag man durch sie zur Vermutung eines metaphorischen Sprachgebrauchs gelangen, doch bildet das dann den Anlass für den Übergang von einer wörtlichen zu einer nichtwörtlichen Verwendung, durch die das Kontrafaktische des metaphorischen Gebrauchs gerade eliminiert wird. Von Metaphern unterscheiden sich kontrafaktische Imaginationen, indem sie sich gerade nicht durch einen Bedeutungsübergang (von einer wörtlichen zu einer metaphorischen Bedeutung) wie die Metapher in ein Ganzes einer Argumentation, in der sie Verwendung finden, integrieren lassen. Aber genau das macht es so schwierig, Gebilde zu erklären, die secundum imaginationem per impossibile verfahren und die Verwendung in argumentierenden textuellen Kontexten finden.

Vorausgesetzt ist der Bestimmung zufolge, dass eine Imagination dann kontrafaktisch ist, wenn sie mit einem als gewiss angenommenen Wissen konfligiert, und anders als bei anderen Imaginationen ist es bei ihnen vergleichsweise leicht, das personen- und zeitbezogen einigermaßen zuverlässig festzustellen. Der Grund hierfür ist zugleich der, der die Argumentationen per imaginationem auf den ersten Blick so rätselhaft erscheinen lässt; denn diejenigen, die sie entwickeln und vortragen, lassen durchweg keinen Zweifel daran, dass sie um den kontrafaktischen Charakter ihrer Darbietungen wissen und dass ein solches Wissen auch dem Adressaten nicht verborgen zu bleiben braucht. Die kontrafaktische Imagination selbst bedarf nicht der Tarnung, so subversiv das in dieser Weise entfaltete Denken und wie unausgesprochen seine Konsequenzen auch sein mochten; eher schon kann der Modus der Kontrafaktizität eine Täuschung darstellen. Die Täuschungsabsicht könnte dadurch gegeben sein, dass man die allgemein geteilte epistemische Einstellung gegenüber bestimmten Wissensansprüchen gerade nicht teilt, so dass die Imagination nur für den intendierten Leser, nicht aber für denjenigen, der sie vorträgt, kontrafaktisch ist. Dann freilich handelt es sich nach dem hier angenommenen Verständnis nicht mehr um eine kontrafaktische Imagination oder allenfalls um eine sehr spezielle Variante; denn diese Art der ,Täuschung’ geht auf eine immer gegenwärtige Maxime des effektiven Argumentierens zurück.

Es handelt sich um die Maxime, dass es in der Regel zweckmäßig sei, allein von den geteilten Überzeugungen der Adressaten auszugehen, wenn man für einen von ihnen bislang nicht geteilten Wissensanspruch argumentieren will. In zwei Varianten realisiert sich diese Maxime: als reductio und als dissimulatio. Diereductio liegt dann vor, wenn es sich um die hypothetische (vorläufige) Ausklammerung eigener Überzeugungen bei der Argumentation handelt, umdissimulatio handelt es sich dann, wenn es das kontrafaktische Annehmen eines Konsenses mit denjenigen ist, die man zu überzeugen gedenkt. Der Unterschied beider Varianten ist grundlegend: Bei der reductio klammert man etwas hypothetisch aus, was man selbst teilt, aber der andere nicht. Bei derdissimulatio nimmt man etwas hypothetisch an, was man nicht teilt, aber der andere. Der Unterschied liegt im Ziel der Argumentation: Jemanden unter Verzicht auf bestimmte Beweismittel von der Wahrheit eines Wissensanspruchs zu überzeugen und damit zur Zustimmung zu veranlassen oder ihn (zunächst) unter Annahme bestimmter Beweismittel zur Zustimmung zu einem Wissensanspruch zu veranlassen. Der Wissensanspruch, zu dem man ihn veranlasst, ist zwar im zweiten Fall auch wahr, aber die Gründe, die ihn zur Zustimmung veranlassen sollen, sind es nicht. In diesem Fall erzeugt man Zustimmung mit falschen Argumenten, in jenem mittels einer suboptimalen Argumentation. Die dissimulatio lässt sich dann zwar als kontrafaktisch auffassen, aber dieses Kontrafaktische deckt sich gerade nicht mit dem, was der Adressat als kontrafaktisch annimmt.

Allerdings ist noch eine weitere Abgrenzung erforderlich, die zugleich einen weiteren Aspekt kontrafaktischer Imaginationen beleuchtet. Für einen Christen, so sehr er auch die certitudo metaphysica und physicalis von Wissensansprüchen anerkennen mag, geschieht das mit einem Vorbehalt: Es handelt sich nur um eine menschliche Gewissheit, die gegenüber der certitudo divina immer nursecond best ist; ja mehr noch, es gibt Wissensansprüche, die nach christlicher Vorstellung wahr sind, aber sowohl einem Wissen mit certitudo metaphysica wie mit physicalis widerstreiten können. Sie gelten dann als supra rationem odersupra naturam, mitunter sogar als contra rationem oder naturam. Nun besagt das, anders als man vielleicht vermuten könnte, nicht viel über das Phänomen der kontrafaktischen Imaginationen. Dass es der certitudo metaphysicawidersprechende kontrafaktische Imaginationen wohl nicht oder nur selten gab, dürfte etwas damit zu tun haben, dass das, was der certitudo metaphysicawiderspricht, in der Regel als nicht vorstellbar oder als nicht imaginierbar oder als nicht denkbar galt. Wenn die Imaginationen auf Wissensansprüchen beruhten, die aus menschlichen und göttlichen Gewissheiten zusammengesetzt sind, dann konnte es hingegen zu kontrafaktischen Imaginationen kommen. Ihren kontrafaktischen Charakter gewinnen sie dann gerade über Exklusion – hierzu gehören denn auch die berühmten Etiamsi-daremus-non-esse-Deum-Konstruktionen, die auf der Annahme beruhen, es gäbe keinen (christlichen) Gott, also der methodologische Atheismus.

Kontrafaktische Imaginationen im Bereich der Glaubenslehre sind zum einenallein angesichts des Weltwissens (zu einer bestimmten Zeit) kontrafaktisch, aber angesichts des Übernatürlichen, des Göttlichen sind sie es nicht; sie gehören dann zu den Mysterien des Glaubens; zum anderen sind es Imaginationen, die bestimmte Konsequenzen der betreffenden theologischen Lehrstücke illustrieren, nach denen etwas zwar möglich, aber nicht realisiert ist. Das, was in der christlichen Glaubenslehre der certitudo metaphysicawiderspricht, gilt als Glaubensmysterium und nicht als kontrafaktische Imagination; das, was in ihr der certitudo physicalis widerstreitet, gilt ebenfalls nicht als kontrafaktische Imagination, sondern als Wunder, vorausgesetzt freilich, die Abweichung von der Natur wird nicht als durch das Handeln eines bösartigen Dämons herbeigeführt. Um so abweichender sich ein Wunder darstellt, desto mehr zeugt es von der Macht, die zum Abweichen vom cursus naturae oder vitae erforderlich ist, und desto sicherer lässt sich auf die Gegenwart göttlichen Wirkens schließen. Grundsätzlich Neues zu schaffen, bleibt der Allmacht Gottes vorbehalten. Die Frage, inwieweit der menschlichen Imagination die Möglichkeit zugesprochen wird, sich ein solches Neuesvorstellen zu können – also etwas, das nicht allein auf eine mehr oder weniger überraschende Kombination und Verknüpfung bestehender Elemente zurückzuführen ist, wird in dem hier hauptsächlich interessierenden Zeitraum weithin verneint, und das scheint denn auch eine Grenze für die kontrafaktische Imagination in argumentierenden Kontexten zu sein.

Keine Frage ist, dass Wissensansprüche, auch wenn man sie für falsch hält,kognitive Zwecke erfüllen können: Denn aus einem falschen Wissensanspruch folgen in der Regel auch solche, die man für wahr hält – und in logisch trivialer Weise ist das immer der Fall. Doch sollte es mehr sein, was von der kognitiven Funktion bei einem so aufwändigen, weil so offenkundig falschen Unternehmen, als das sich kontrafaktische Imaginationen darbieten, zu erwarten ist – eben mehr als das triviale Folgern von wahren Wissensansprüchen aus bekannt falschen, was zum Beispiel keine Begründungsfunktion für Wissensansprüche zu erfüllen vermag. Es lässt sich sogar vermuten, dass proportional zur Selbstverständlichkeit der Falschheit einer kontrafaktischen Imagination die Bedeutung ihrer kognitiven Funktion wachsen müsste. Wenn man mitunter vonthe paradox of thought experiment spricht, dann scheint das bei kontrafaktischen Imaginationen noch berechtigter zu sein. Denn sie sind nicht nur falsch, sondern so offensichtlich falsch, dass sie sich auch nicht mittels Gradationen anhand einer zumindest intuitiv nachvollziehbaren Skala von mehr oder weniger falsch, von mehr oder weniger angemessen oder irgendeiner anderen Eigenschaft ihrer Güte diskriminieren zu lassen scheinen. Insonderheit stellt sich das Problem der Beliebigkeit derartiger Imaginationen, die mit Ausnahme der sinnwidrigen Imaginationen unbegrenzt zu sein scheinen – und das, so ließe sich vermuten, spricht nicht für irgendeinen kognitiven Nutzen; von den Möglichkeiten ihrerkritischen Erörterung ganz zu schweigen.

Das, was dann verbleibt, ist im wesentlich die reductio ad absurdum, also das Aufzeigen einer Konsequenz eines Wissensanspruchs mittels kontrafaktischen Imaginierens, die falsch ist; oder es bleibt genau die Abgrenzung zu den sinnwidrigen Imaginationen. Dann erhalten diese kontrafaktischen Imaginationen ihre spezifische kognitive Funktion, indem sie mit dem Konzept der Vorstellbarkeit oder Denkbarkeit verbunden werden, wie es oftmals unausgesprochen, mitunter aber auch ausgesprochen geschieht. Das, was denkbar oder vorstellbar ist, ist nicht gebunden an das, was als wahr gilt. Doch erst dann, wenn diese Vorstellbarkeit oder Denkbarkeit, die sich durch kontrafaktisches Imaginieren prüfen lässt, als ein Kriterium oder Indikator für epistemische Eigenschaften gelten kann, ist eine entsprechende kognitive Funktion für diese Imaginationen mittels Vorstellbarkeit oder Denkbarkeit gegeben. Doch darin liegt auch ein Problem des historischen Wandels.

Die Regeln der Verknüpfung wären dann: Wenn vorstellbar, dann auch möglich – und vice versa; wenn nicht vorstellbar, dann auch nicht möglich – und vice versa. Schon für einige scholastische Theologen und Philosophen, aber auch für Descartes, war die zweite Verknüpfung nicht zulässig, nämlich dass etwas, das (für den Menschen) nicht vorstellbar ist, auch (für Gott) unmöglich sei. Man kann sich zwar die Falschheit bestimmter mathematischer oder logischer Wahrheiten nicht ,vorstellen’, wie Descartes betont, aber das schließe nicht aus, dass Gott sie hätte falsch machen können, auch wenn es strittig ist, was Descartes mit dieser Imagination genau zu zeigen versucht. Anders als beispielsweise David Hume teilt man mittlerweile nicht mehr die Sicherheit, dass sich von der Vorstellbarkeit oder Denkbarkeit im allgemeinen auf bestimmte epistemische Merkmale von Wissensansprüchen schließen lasse oder dass sie gar als Kriterien zum Sortieren von Wahrheit funktioniert – in den Logiken des 17. und 18. Jahrhunderts nicht unüblich gewesen ist, die certitudo metaphysica (etwa als logische Wahrheit) als höchste Gewissheit als das zu bestimmen, dessen Gegenteil nicht gedacht werden könne.

Doch der Eindruck dieser nur beschränkten Aufgabe täuscht: Es finden sich andere Konstellationen für kontrafaktische Imaginationen, in denen sie nicht als willkürlich erscheinen und die so die Vermutung bekräftigen, dass sie durchweg in bestimmten Konstellationen kognitive Aufgaben zu erfüllen vermögen. Zwar gibt es für das vielgliedrige Phänomen der kontrafaktischen Imaginationen keine kognitiven Standardfunktionen, die sie gleichsam per se erfüllen. Doch das, was sie zu leisten vermögen, beschränkt sich nicht auf die reductio ad absurdum oder auf imaginative argumenta probantia oder illustrantia für das Denkbare und Vorstellbare. In welcher Gestalt die von ihnen erbrachten Leistungen in Erscheinung treten, hängt von der epistemischen Situation ihrer Verwendung ab. Allein auf sie bezogen setzen sich solche Imaginationen nicht mehr dem Verdacht der Willkürlichkeit aus, und in ihnen können sich dann sogar Gütekriterien erzeugen, die kontrafaktische Imaginationen als mehr oder weniger angemessen in bestimmten epistemischen Situationen und in Hinsicht auf bestimmte Argumentationszielen erscheinen lassen. Wichtig ist dabei, dass sich diese Situationen hinsichtlich ihres Wandels als elastischer darstellen, als man oftmals einzuräumen bereit ist, wenn man nach DiskontinuitätenSprüngenoder Brüchen fahndet. Kontrafaktische Imaginationen können hinsichtlich ihres Auftretens und ihrer Beliebtheit sowie im Blick auf die von ihnen erwarteten Leistungen unbeschadet größere Veränderungen der epistemischen Situation, in der sie eingeführt werden, überstehen, auch wenn die Wahrnehmung und Entfaltung ihrer kognitiven Meriten nicht jenseits solcher Situationen steht. Zwar können sie sich in ihnen auch zu unsinnigen Imaginationen verwandeln, doch vor allem können sie ihren kontrafaktischen Charakter verlieren.
Verknüpfungen

Vorarbeiten

  1. Lutz Dannberg, Überlegungen zu kontrafaktischen Imaginationen in argumentativen Kontexten und zu Beispielen ihrer Funktion in der Denkgeschichte. In: Toni Bernhart und Philipp Mehne (Hg.), Imagination und Innovation. Berlin 2006 (Beiheft 2 Paragrana), S. 73-100
  2. -: Epistemische Situationen, kognitive Asymmetrien und kontrafaktische Imaginationen. In: Lutz-Raphael und Heinz-Elmar Tenorth (Hg.), Ideen als gesellschaftliche Gestaltungskraft im Europa der Neuzeit. Exempel einer neuen Geistesgeschichte. München 2006, S. 193-221; erweiterte fheh-Fassung 12.2.2017.
  3. -: Kontrafaktische Imaginationen in der Hermeneutik und in der Lehre des Testimoniums. Version 24. 10. 2009; erscheint in kürzerer Fassung in: L.D., Carlos Spoerhase und Dirk Werle (Hg.), Begriffe, Metaphern und Imaginationen in der Wissenschaftsgeschichte. Erscheint Wiesbaden 2009, S. 287-449
  4. -: Das Gesicht des Textes und die beseelte Gestalt des Menschen: Formen der Textgestaltung und Visualisierung in wissenschaftlichen Texten – historische Voraussetzungen und methodische Probleme ihrer Beschreibung. Version 16. 07. 2012; FHEH-Preprint; in kürzerer Fassung in: Nicolas Pethes und Sandra Pott (Hg.), Medizinische Schreibweisen. Ausdiffrenzierung und Transfer zwischen Medizin und Literatur (1600-1900). Berlin 2008, S. 13-72
  5. Andrea Albrecht und Lutz Danneberg: First Steps Toward an Explication of Counterfactual Imagination. In: Dorothee Birke, Michael Butter und Tilmann Köppe (Hg.), Counterfactual Thinking/Counterfactual Writing. Berlin/New York 2011

Kontakt: Lutz Danneberg