Wissen in Literatur: Probleme, Adäquatheitsbedingungen, Explikationen, Rekonstruktionen

Bearbeitung: Lutz Danneberg, Carlos Spoerhase

Gegenstand des Forschungsprojekts ist eine von der aktuellen Debatte ausgehende systematische Analyse der Formen, in denen „Wissen in Literatur“ sein kann. Diskutiert werden in der aktuellen Debatte immer wieder folgende Fragen:

(1) Hermeneutische Fragen: Wie lassen sich die von einem literarischen Werk implizierten, thematisierten oder problematisierten Wissensbestände identifizieren und beschreiben?

(2) Artfaktgenetische Fragen: Welche Rolle spielen Wissensbestände bei der Produktion literarischer Werke?


(3) Epistemologische Fragen: In welcher Weise können literarische Werke eine Quelle von Wissen sein?

(3.1) Positionen, die in der aktuellen englischsprachigen analytischen Diskussion hier vertreten werden (insgesamt eine eher schwache Diskussion mit enttäuschenden ‚Ergebnissen‘), sind:

(a) Kognitive Stimulation: Bestimmte Fakultäten werden mitangesprochen, die in anderen kognitiven Tätigkeiten nicht mitangesprochen werden: Einbildungskraft, Wahrnehmung, Urteilsvermögen, Lust.

(b) Nicht-propositionales Wissen als Wissen-wie: Wissen, wie es ist, eine bestimmte Erfahrung zu machen; wissen, wie es ist, einen bestimmten Gemütszustand zu haben

(c) Einübung von moralischer Tätigkeit (exercise): Während der Lektüre üben wir bestimmte moralisch relevante Tätigkeiten aus.

(d) Exemplifikation von moralischer Tätigkeit (exemplar): Der Text führt uns bestimmte moralisch relevante Tätigkeiten vor.

(e) Wir gewinnen ‚neue‘ Perspektiven auf die Welt, durch Aneignung einer neuen Selbst- bzw. Weltbeschreibung: Hier steht der konstruktive Charakter von Kunst, ihre (behauptete) ‚kulturprägender‘ Einfluss im Vordergrund. Beispiele: Aneignung neuer Konzepte von Individualität, Liebe usw.

(3.2) Häufig wird die These, dass Literatur eine Quelle von Wissen sei, sogar noch dahingehend spezifiziert,

(a) dass Literatur Quelle einer eigenen (genuinen) Form des Wissens sei, d.h. ein spezifisches Wissen liefere, dass nicht in anderen (wissenschaftlichen) Diskursen etabliert werden kann. Hier ließe sich von einer These der spezifischen Wissensexklusivität sprechen.

(3.3) Probleme, an denen sich die Diskussion immer wieder (bislang ohne größere Erfolge) abarbeitet, sind unter anderem

(a) die Frage, ob Literatur eine Quelle neuen Wissens sein kann , d.h. Quelle eines Wissens, das noch nicht bereits in anderen (wissenschaftlichen) Diskursen etabliert ist oder ob Literatur grundsätzlich auf die Aufnahme von bereits (außerliterarisch) etabliertem Wissen angewiesen ist.

(b) damit verbunden auch die Frage, inwiefern Literatur eine Quelle von nicht-trivialem Wissen sein kann (wie z.B. linguistischem Wissen, Wissen, dass Menschen in Berlin wohnen usw.).

(c) die Frage, inwieweit Literatur auch Gründe dafür liefern kann, dass etwas von dem, was sie sagt, tatsächlich auch so ist? Inwiefern vermag Literatur auch das in ihr enthaltene Wissen als ein solches zu rechtfertigen? Dieses Problem weist zwei Dimensionen auf, die damit zusammenhängt,

(i) das literarische Texte aufgrund ihrer Fiktionalität keine (expliziten) Wissensansprüche formulieren

(ii) und (häufig) keinen (expliziten) argumentativen Charakter aufweisen.

(d) die Frage, inwiefern sich von einem literarischen Wissen als in literarischen Texten enthaltenes Wissen (Literatur als Wissensreservoir) ein von literarischen Texten ‚bloß‘ vermitteltes Wissen (Literatur als Wissensträger) unterscheiden lässt.

(e) die Frage, ob literarische Texte Quelle von propositionalem Wissens (Wissen in Aussagenform) oder nichtpropositionalem Wissen sein können, und wie genau das Konzept einer nichtpropositionalen Wissensform zu explizieren ist, z.B. im Sinne einer Unterscheidung von knowing-that und knowing-how:

(i) knowing-that ist propositionales Wissen oder deklaratives Wissen; d.h. Wissen, dass eine bestimmte Aussage wahr oder falsch ist, dass sich in der Welt bestimmte Sachverhalte so und so verhalten (z.B. wissen, dass Napoleon die Schlacht Austerlitz gewonnen hat; wissen, dass man auf Glatteis leicht ausrutschen kann; wissen, dass ein Fleck auf der gegenüberliegenden Wand ist usw.).

(ii) knowing-how ist nichtpropositionales Wissen wie practical mastery, d.h. praktische Fähigkeiten und Fertigkeiten (z.B. Fahrrad fahren können).

(iii) knowledge by acquaintance bzw. knowing-what-it-is-like ist nichtpropositionales Wissen wie Vertrautheit (seinen Doktorvater kennen, sich in München auskennen), aber auch unmittelbare präsente Wahrnehmungszustände (z.B. Kopfschmerzen, Farbwahrnehmungen usw.).

(iv) Bis in die Gegenwart wird diskutiert, inwiefern knowing-how knowing that voraussetzt (so wird z.B. darauf hingewiesen, dass es nicht denkbar ist, dass man sich in Berlin auskennen kann ohne sehr viel über Berlin zu wissen (d.h. zu wissen, dass Berlin nicht in den Bergen liegt usw.).

(f) Von den damit genannten unterschiedlichen nichtpropositionalen Wissenstypen (nichtpropositionales Wissen als eine spezifische Wissensform), sind nichtpropositionale Formen der Wissensvermittlung zu unterscheiden (die Differenzierung wird in der Diskussion meist unterlassen). Nichtpropositionale Formen der Vermittlung von Wissen – die, wie gesagt, nicht Wissensformen, sondern (epistemische) Vermittlungsformen sind – sind als Darstellungsformen dort gegeben, wo ein bestimmtes Wissen nicht direkt ‚gesagt‘ (d.h. behauptet), sondern indirekt ‚gezeigt‘ (d.h. dargestellt) wird; das sind bei literarischen Texten unter anderem literarische Strukturierungsformen (z.B. Gattungen), rhetorische Instrumente (z.B. Metaphern) oder literarische Narrative (z.B. ‚bildliche‘ Modelle).

Verknüpfungen

Vorarbeiten

  1. Lutz Dannebrg und Hans-Harald Müller: Brecht and the Logical Empiricism. In: The Brecht-Yearbook/Brecht-Jahrbuch 15 (1990), S. 151-163 (deutsche Übersetzung in: Wendelin Schmidt-Dengler [Hg.], Fiction in Science – Science in Fiction. […]. Wien 1998, S. 59-70).
  2. Lutz Danneberg: Das Elend der Brecht-Forchung. In: Notae. Informations- und Mittedilungsblatt des Brecht-Zentrums der DDR 13 (1990), H. 3, S. 4-7.
  3. Lutz Danneberg: Kontextbildung und Kontextverwendung. In: SPIEL. Siegenr Periodicum zur Internationalen Empirischen Literaturwissenschaft 9 (1990), S. 89-130.
  4. Lutz Danneberg: Logik und Literatur. In: Komplex Logik. Symposium zu Ehren von Alexander Sinowjew. Berlin 1992, S. 58-66.
  5. Lutz Danneberg: Wie kommt die Philosophie in die Literatur? In: Christiane Schildknecht und Dieter Teichert (Hg.), Philosophie in Literatur. Frankfurt/M. 1996, S. 19-54.
  6. Lutz Danneberg: Sprachphilosophie in der Literatur. In: Marcello Dascal et al. (Hg.), Sprachphilosophie/Philosophy of Language/La philosophie du langage. […]. Berlin/New York 1996, S. 1538-1566.
  7. Lutz Danneberg: Zu Brechts Rezeption des Logischen Empirismus. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 44 (1996), S. 363-387.
  8. Lutz Danneberg: Ganzheitsvorstellungen und Zerstückelungsphantasien. Zum Hintergrund der Wahrnehmung ästhetischer Eigenschaften in der zweiten Hälfte des 18. und zu beginn des 19. Jahrhunderts. In: Jörg Schönert und Ulrike Zeuch (Hg.), Mimesis – Repräsentation – Imagination. […]. Berlin/New York 2004, S. 241-282.
  9. Lutz Danneberg: Weder Tränen noch Logik: Über die Zugänglichkeit fiktionaler Welten. In: Uta Klien et al. (Hg.), Heuristiken der Literaturwissenschaft. […]. Paderborn 2006, S. 35-83. Langfassung Weder Tränen noch Logik
  10. Lutz Danneberg und Carlos Sporhase: Wissen in Literatur. Kann es epistemische Situationen geben, in denen Wissen in Literatur ist und in denen Literatur Wissen überträgt? Überlegungen zur systematischen Pragmatik von Wissenszuschreibungen. Version 3. 3. 2009, PDF-Dokument

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