Analysis textus: scriptura und natura

Bearbeitung: Lutz Danneberg

Die analysis wird im Zeitraum zwischen der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts bis in die Mitte des 18. Jahrhundert zu dem zentralen Konzept, das die Behandlung von Texten jeglicher Art umschreibt – solche der Überlieferung ebenso wie solche der Literatur oder solche, in denen die zeitgenössischen Kontroversen ausgetragen werden . Der Ausdruck analysis setzt sich im 16. Jahrhundert durch und verdrängt etwa Ausdrücke wie resolvere, die sich seit der Antike finden. Einflussreich war dabei nicht zuletzt der Gebrauch, den Aristoteles an markanten Stellen im Organon von diesem Ausdruck macht, aber auch die verzweigte Tradition von resolutio und compositio, von analysis undsynthesis (genesis) Dahinter steht eine bestimmte Auffassung des Textes wieder textuellen Kommunikation und vor diesem Hintergrund findet dann die analysis textus Eingang nicht zuletzt in den praktischen, auf die Anwendung ausgerichteten Teil der Logiken.

Wie so vieles im 20. Jahrhundert aus der Geschichte der Hermeneutik in Vergessenheit geraten ist, so entschwunden ist auch weitgehend die Beziehung von hermeneutica und logica (dialectica) aus dem philosophiehistorischen Gedächtnis. Zunächst sind die ersten Anregungen zur Erforschung der Entwicklung dieser Beziehung nur zögerlich verfolgt worden, dann freilich mit gewichtigen Beiträgen zu Ausschnitten dieser Geschichte. Freilich sind bislang nicht mehr als Fährten gelegt, die in ein schwer zu überschauendes, noch immer weitgehend unbekanntes Gelände führen. Dieses Gelände ist zudem weiträumiger abzustecken, als man dies bislang zu tun pflegte. Das beginnt bereits dann, wenn man sich von dem Bild einer mehr oder weniger kontinuierlichen Verfallsgeschichte der Hermeneutik bis zum Ende des 18. Jahrhunderts trennt, gleichsam in Umkehrung solcher Szenarien, die just dort den Beginn der Aufstiegsgeschichte der Hermeneutik zu erkennen meinen. Dieses Terrain ist auch deshalb nicht ohne Mühe zu erkunden, weil es wenige hilfreiche – verlässliche wie übergreifende – bibliographische Vorarbeiten gibt. Für die Geschichte der Logik gibt es mittlerweile eine Reihe von Orientierungspunkten, während der hermeneutische Part hingegen weitgehendterra incognita geblieben ist. In Anbetracht der Fülle der Quellen vom 16. bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts kann es nicht mehr sein, ausgewählten Aspekten der Beziehung von Logik und Hermeneutik nachzugehen.

Das Konzept der analysis differenziert sich. Orientiert am Trivium unterscheidet man zunächst analysis grammaticalogica und rethorica. Später kommt es zu einer Vielzahl von spezielleren Konzepten – etwa analysis syllogistica,demonstrativamethodicaargumentorumdichotomicaparaphrastica, aber auchanalysis logicotheologicaanalysis aphoristicaanalysis logicatypicaanalysis mytholgicaanalysis rituali oder analysis poetica, mit denen ein spezifisches Wissen umschrieben wird, das bei der analysis textus seinen Einsatz findet. Von der interpretatio analytica (als analysis textus) wird die synthetica interpretatiounterschieden, die eine Art Umkehrung interpretatio analytica darstellt und dann das umschreibt, was sich als applicatio in der Homiletik (ars concionandi) darstellt. Im Zuge der Entwicklung der Anatomie, nicht zuletzt unter Eindruck des Werks Andreas Vesals, tritt nicht allein ein terminologischen Konkurrenten ins Feld, den der anatomia, sondern es findet zudem eine Renovierung der Vorstellungen von dem zu analysierenden ,Textkörper’ statt. Beide Ausdrücke,anatomia und analysis, werden nicht selten synonym gebraucht, auch wenn sich langfristig der letztere durchsetzt. Diese Art der Textbetrachtung verbindet sich nicht selten mit einem speziellen, aber weithin verbreiteten Verfahren der kompakten Präsentation von Wissen, nämlich der tabellarischen Darstellungsweise (methodus tabellaria) als einer ad-oculos-Präsentation.

Obwohl der Ausdruck des Buch-Lesens zumindest in zweifacher Hinsicht als metaphorisch erscheint: zum einen in dem, was als Lesen aufgefasst wird, zum anderen in dem, was sich als Buch darbietet, und der Gebrauch von Wendungen wie „Buch der Natur“ in nicht wenigen Fällen tatsächlich metaphorisch sein dürfte. Doch nach einem Minimum, was sich zur Identifikation eines vergangenen metaphorischen Gebrauchs sagen lässt, bemisst sich die nichtwörtliche Bedeutung an dem relevanten Wissen in einer gegebenen epistemischen Situation und vor deren Hintergrund eine wörtliche Deutung – etwa der Wendung „Buch der Natur“ – als unpassend erscheint. Keine Frage ist, dass immer Unterschiede zwischen dem liber naturalis und supernaturalisgesehen wurde, etwa dass das eine schriftlos sei, doch zeigen allein Unterschiede noch nicht einen metaphorischen Gebrauch eines Ausdruck an. So ermöglicht denn auch ein als relevant gehaltenes Wissen in der gegebenen epistemischen Situation – nicht erst bei Spinoza –, dass Vorstellungen der analysis die Grundlage für Auffassungen bieten, dass das Lesen im liber naturalis, im liberartificialis und im liber supernaturalis in bestimmter Hinsicht (und nicht nur metaphorisch) ähnlichen methodischen Annahmen folgen.

Das schafft Voraussetzungen für das Erkunden von Gemeinsamkeiten, Parallelen und Koinzidenzen, die nicht zuletzt zwischen der Betrachtung des einen göttlichen Buches, dem liber supernaturalis (scripturae) sowie des anderen, demliber naturalis (naturaecreaturarum), als bestehend gesehen wurden. Wie es auch immer mit der Metaphorik des Lesens in den beiden göttlichen Büchern auch bestellt sein mochte: Es gab Elemente sowohl beim „Lesen“ als auch beim „Buch“, die in beiden Fällen in gleicher Weise und allem Anschein nach nichtmetaphorisch verwendet wurden. Beim „Lesen“ ist das der Fall eben mit dem Ausdruck analysis, beim „Buch“, dass sein Lesen in beiden Fällen auf der ontologischen Strukturierung nach dem causa-effectus-Modell beruht. Neben Vorgängen beim Analysieren, die in der Zeit zwar nicht in einer gemeinsamen Sprache konzeptionalisiert wurden, die gleichwohl weitgehende strukturelle Ähnlichkeit besitzen, dass sie sich in gleicher Weise umschreiben lassen, treten parallel laufende Tendenzen – etwa die mehr oder weniger hypothetische Ausschaltung des Rückgriffs auf die providentia Dei – oder partielle Trends – etwa eine Bewegung von Außen nach Innen, wobei es sich zumeist umsola/solus-Konstruktionen handelt: allein die Natur, allein der Körper, allein die Gnade, allein der Glaube, allein der historische oder wörtliche Sinn (sola historica sententiasolus sensus literalis), solus Christus doctorsola rationesola traditione, mit denen man etwas über die legitimen und reinen Quellen sagen will, mithin über die einzige Autorität, aus denen die Wissensansprüche zu rechtfertigen seien.

Hinzu kommt schließlich eine Reihe von Koinzidenzen, bei denen sich eine metaphorischen Umschreibung anbietet – etwa dass ebenso wie bei der Heiligen Schrift auch bei Erkundungen der Natur ein Prinzip der claritas (claritasscripturae externa/interna) gelte, und zwar in dem Sinn, dass die Natur keine derartigen Geheimnisse berge, die nicht irgendwann dem aufmerksamen Beobachter vor die Augen treten. Schwieriger scheint es, gegenseitige Beeinflussung festzustellen. Hier ist noch größere Vorsicht bei der Deutung geboten und die Art und Weise solcher direkten Kontaktnahmen bleibt sorgfältig zu untersuchen. Dass es sie gibt, steht außer Frage, allein schon deshalb, weil man durchgängig seit Mitte des 17. Jahrhunderts (wenn auch bislang wenig beachtet) das Vorgehen der Textinterpretation zur veranschaulichende Illustration diffiziler methodischer Probleme bei der Naturerklärung oder bei der naturwissenschaftlichen Hypothesenbildung wählt. Schon diese Hinweise lassen erahnen, dass die Gemeinsamkeiten, Parallelen und Koinzidenzen beim Lesen im liber supernaturalisartificialis und naturalis verschiedene Ebenen umgreifen und mit unterschiedlicher Reichweite gelten, dass sie in sich verwickelter und mühsamer zu entdecken sind, als dies bislang erschien.

Im Rahmen des Projekts wird die Vorgeschichte der analysierenden Methode bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts und ihre hohe Zeit bis um die Mitte des 18. Jahrhunderts untersucht. Des weiteren wird den Gründen für den vehementen Niedergang am Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts nachgegangen, den das gängige Schreckensbild der ,Wut des Zerlegens’ und des ,Zerstückelns’ begleitet, dabei nicht zuletzt mit Blick auf die sich veränderenden Ansichten vom (literarischen) Autor und seinem Werk als einem ganzheiltichen Gebilde hoher (oder höchster) innerer Bestimmtheit, die gerade durch die analysis zerstört zu werden droht; das mit dem ,Skalpell anatomisierte’ Werk verliert seinen ,Geist’, sein ,Leben’ – kurz: Es verliert seine ganzheitlichen Eigenschaften. Bestimmtze Eigenschaften des Textes werden zu unreduzierbaren Makroeigenschaften, bei denen man dazu neigt und sich dann daran gewöhnt, sie als ‚ästhetische‘ Eigenschaften auszuzeichnen.

Verknüpfungen

Vorarbeiten

  1. Lutz Danneberg, Die Auslegungslehre des Christian Thomasius in der Tradition von Logik und Hermeneutik. In: Friedrich Vollhardt (Hrg.), Christian Thomasius (1655-1728). Neue Forschungen im Kontext der Frühaufklärung. Tübingen 1997 (Frühe Neuzeit 37), S. 253-316
  2. -, Logik und Hermeneutik: die analysis logica in den ramistischen Dialektiken. In: Uwe Scheffler und Klaus Wuttich (Hg.), Terminigebrauch und Folgebeziehung. Berlin 1998, S. 129-157.
  3. -, Zum Autorkonstrukt und zu einem methodologischen Konzept der Autorintention. In: Fotis Jannidis et al. (Hg.), Rückkehr des Autors. Zur Erneuerung eines umstrittenen Begriffs. Tübingen 1999, S. 77–105
  4. -, Logik und Hermeneutik im 17. Jahrhundert. In: Jan Schröder (Hg.), Theorie der Interpretation vom Humanismus bis zur Romantik – Rechtswissenschaft, Philosophie, Theologie. Stuttgart 2001 (Contubernium 58), S. 75-131
  5. -, Sinn und Unsinn einer Metapherngeschichte. In: Hans Erich Bödeker (Hg.), Begriffsgeschichte, Diskursgeschichte, Metapherngeschichte. Göttingen 2002 (Göttinger Gespräche zur Geschichtswissenschaft 14), S. 259-421
  6. -, Die Anatomie des Text-Körpers und Natur-Körpers: das Lesen im libernaturalis und supernaturalis. Berlin/New York 2003
  7. -, Ganzheitsvorstellungen und Zerstückelungsphantasien. Zum Hintergrund und zur Entwicklung der Wahrnehmung ästhetischer Eigenschaften in der zweiten Hälfte des 18. und zu beginn des 19. Jahrhunderts. In: Jörg Schönert und Ulrike Zeuch (Hg.), Mimesis – Repräsentation – Imagination. Literaturtheoretische Positionen von Aristoteles bis zum Ende des 18. Jahrhunderts. Berlin/New York 2004, S. 241-282
  8. -, Kontroverstheologie, Schriftauslegung und Logik als donum Dei: Bartholomaeus Keckermann und die Hermeneutik auf dem Weg in die Logik. In: Sabine Beckmann und Klaus Garber (Hg.), Kulturgeschichte Preußens königlich polnischen Anteils in der Frühen Neuzeit. Tübingen 2005 (Frühe Neuzeit 103), S. 435-563
  9. -, Vom grammaticus und logicus über den analyticus zum hermeneuticus. In: Jörg Schönert und Friedrich Vollhardt (Hg.), Geschichte der Hermeneutik und die Methodik der textinterpretierenden Disziplinen. Berlin/New York 2005 (Historia Hermeneutica. Series I: Studia 1), S. 255-337.
  10. -: Das Gesicht des Textes und die beseelte Gestalt des Menschen und die beseelte Gestalt des Menschen: Formen der Textgestaltung und Visualisierung in wissenschaftlichen Texten – historische Voraussezungen und methodische Probleme ihrer Beschreibung. In: Nicolas Pethes und Sandra Pott (Hg.), Medizinische Schreibweisen. Berlin 2008, S. 13-72; wesentlich erweitert Version (PDF-Datei).
  11. -: Die eine Logik des Petrus Ramus. In: Joel Biard und Fosca Mariani Zini (Hg.), Le lieux de l’arguemntation. Histoire du syllogisme topique d’Antiquité à Leibniz. Turnout 2010, S. 385-408. Erweiterte Version,10. 2. 2017; PDF-Dokument
  12. -: Das perforierte Gewand: Geschichte und hermeneutische Funktion vondistinctionespartitiones und divisiones. In: Alexander Nebrig und Carlos Spoerhase (Hg.), Die Poesie der Zeichensetzung. Studien zur Stlistik der Interpunktion. Bern 2012, S. 89-132; wesentlich erweiterte Version vom 30. 5. 2014 (PDF-Datei)
  13. -: Galilei und die auctoritas und dignitas der Heiligen Schrift.  In: Andrea Albrecht, Giovanna Cordibella und Volker R. Remmert (Hg.), Galileo Galilei im Schnittpunkt wissenschaftlicher, literarischer und visueller Kulturen im 17. Jahrhundert. Berlin/­Boston 2014, S. 405-448. Wesentlich erweiterte Fassung vom 3.4.2017  Galilei
  14. -: Melanchthons Deutung von 2 Tim 2, 15 und ihre Auswirkungen auf die reformatorische Hermeneutica sacra. In: Christine Christ-von Wedel und Sven Grosse (Hg.) Auslegung und Hermeneutik der Bibel in der Reformationszeit. Berlin und Boston 2017, S. 147-212. Wesentlich erweiterte Version vom 20. 3. 2017: Secare.

Kontakt: Lutz Danneberg